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887. Nacht

Als der König dies sah, ließ er ab von ihr, wurde von
Mitleid ergriffen, und ging von dannen. Sie aber weigerte sich von nun an aus
großer Betrübnis, Speise und Trank zu sich zu nehmen, und so oft sich der
König in den folgenden Tagen ihr näherte, floh sie von ihm. Nun schwur der
König, er werde nur mit ihrem Willen die Schwelle ihres Zimmers betreten. Er
überhäufte sie von nun an mit Wohltaten, und beschenkte sie mit dem
kostbarsten Schmuck. Allein sie empfand nur immer mehr Abneigung gegen ihn.

Was indessen ihren jungen Gatten und Herrn anbetrifft, so
erwartete dieser ihre Rückkehr vergeblich, und fühlte in seinem Herzen die
größten Qualen der Trennung. Besinnungslos ging er aus, ohne zu wissen wohin,
streute Erde auf sein Haupt, und war wie unsinnig, so dass die Knaben auf den
Straßen ihm nachfolgten, mit Steinen nach ihm warfen, und ausriefen: Narr,
Narr!

In diesem Zustand begegnete ihm der Türsteher des
Königs, der ein sehr ehrwürdiger und guter Mann war. Dieser wurde von seinem
Zustand gerührt, verjagte die Knaben, und fragte ihn, was ihm fehle. Der Mann
erzählte ihm seine Geschichte, und der Türsteher tröstete ihn, und versprach
ihm, das Mädchen für ihn zu retten. Auch hörte er nicht auf, ihn
freundschaftlich zu behandeln, bis es ihm gelang, seinen Kummer zu stillen, und
der junge Mann wieder frischen Mut fasste, und mit dem Türsteher nach Hause
ging. Hier ließ dieser ihn seine Kleider ablegen, zog ihm ein anderes Gewand
an, und rief eine gute Alte, die bei ihm als Kinderfrau diente, und sagte zu
ihr: „Nimm diesen jungen Mann, lege um seinen Hals diese eiserne Kette, und
durchziehe mit ihm alle Gegenden der Stadt. Bist Du damit fertig, so steige mit
ihm sogar in den Palast des Königs hinauf, und empfiehl dem jungen Mann
schweigend, dass an dem Ort, wo er seine Frau antreffen würde, er kein Wort
sprechen dürfe, sondern ihr bloß heimlich den Ort bezeichnen solle, wo er sie
gesehen habe.“ Herzlich dankte ihm der junge Mann, und ging mit der Alten
in dem Aufzug, wie es der Türsteher verordnet hatte, aus. Nachdem sie die Stadt
vergebens durchstreift hatten, kamen sie auch zum Schloss des Königs. An jedem
Ort, wo die Alte hinkam, rief sie aus: „Seht, ihr Besitzer von guten
Herzen, seht einen jungen Mann, den die Teufel des Tages zweimal plagen, und
betet für ihn um Befreiung.“ Sie durchlief alle Zimmer, bis sie an den
östlichen Teil des Palastes kam, wo die Mädchen und Sklavinnen ihr entgegen
strömten, um den jungen Mann zu sehen. Als sie ihn erblickten, waren sie von
seiner Schönheit ganz bezaubert, und weinten über ihn. Endlich führten sie
auch seine Frau zu ihm heraus, die ihn auch sah, aber nicht erkannte. Er
indessen erkannte sie beim ersten Anblick, winkte mit dem Kopf und weinte. Sie
war über sein Unglück gerührt, gab ihm etwas, und begab sich wieder in ihre
Zelle. Der junge Mann aber ging mit der Alten wieder zum Türsteher des Königs
zurück, und brachte diesem zugleich die Nachricht, dass sie sich in dem Haus
des Königs befinde. Dieser war darüber sehr bekümmert, und sprach: „Ach
Gott, ich will dennoch eine List ersinnen, um sie zu befreien.“ Aus
Dankbarkeit küsste der junge Mann ihm dafür die Hände, und die Alte erhielt
sogleich den Befehl, ihre Kleider zu wechseln.

Diese Alte hatte die Gabe einer schönen Sprache. Er gab
ihr nun Rosenöl und andere kostbare Wohlgerüche, und sprach: „Gehe zu den
Sklavinnen des Königs, und verkaufe ihnen dieses. Kommst Du aber zu der
bewussten Frau, so frage sie, ob sie ihren Herrn will, oder nicht.“

Die Alte tat, wie ihr befohlen war, und gelangte zu
derselben. Sie nahte sich ihr, und sprach, indem sie ihr folgende Verse
vorsagte: „Wie gesegnet hat Gott die Tage der Verbindung zweier Herzen! Was
ist süßer, als das Leben in Vereinigung zugebracht? Möge nie ein Seufzer
über Trennung unsere Tage trüben! Wie vielen haben sie schon das Leben
getrübt und verkürzt! Auch ich vergieße ohne Schuld mein Blut und meine
Tränen, weil ich den vermisse, den ich liebe. Jedoch umsonst ist meine
Sehnsucht.“ Als das Mädchen diese Verse hörte, vergoss sie die bittersten
Tränen und nahte sich der Alten. Diese sprach zu ihr: „Kennst Du nicht den
und den?“ – „Ja wohl!“, rief sie weinend, „das ist mein
Herr… Woher kennst Du ihn denn?“ – „Hast Du nicht,“ erwiderte
jene, „den Narren gesehen, welcher gestern mit dem alten Weib bei Euch war?
Das war Dein Herr. Jedoch,“ fuhr sie fort, „jetzt ist nicht die Zeit,
zu reden, sondern, wenn die Nacht heran bricht, so steige auf das Dach des
Schlosses, und warte bis Dein Herr kommt. Der wird für Deine Befreiung
sorgen.“

Hierauf gab sie ihr, was sie wünschte, von Wohlgerüchen,
ging zum Türsteher zurück, und benachrichtigte ihn von allem, was vorgefallen
war. Dieser erzählte es dem jungen Mann, und als der Abend kam, besorgte der
Türsteher zwei Pferde nebst Waffen und vielen Lebensmitteln, so wie auch einen
Mann, der des Weges sehr kundig war, welcher außerhalb der Stadt warten musste.
Er aber ging mit dem jungen Mann, mit einem langen Strick versehen, auf die
Straße, wo der Palast stand, und wo schon die Geliebte seiner harrte. Hier warf
er ihr den Strick zu. Sie befestigte ihn oberwärts, ließ sich an ihm herunter,
und befand sich sehr bald bei ihm. Sie führten sie dann bald aus der Stadt.
Beide bestiegen hier ihre Pferde, und der Wegweiser leitete sie, bis sie in die
Vaterstadt des jungen Mannes und in seines Vaters Haus gelangten.

Dieser hatte eine große Freude bei dem Wiedersehen seines
Sohnes, welcher ihm alles, was ihm zugestoßen war, erzählen musste, und woran
der Vater den innigsten Anteil nahm. Was aber den Lehrer anbetrifft, so hatte er
sein ganzes Geld verzehrt, und war wieder zurückgekommen. Als er nun seinen
ehemaligen Zögling erblickte, und alle seine Unglücksfälle vernommen hatte,
entschuldigte er sich bei ihm aufs beste, und es währte auch nicht lange, so
trat wieder die vorige Freundschaft zwischen ihnen ein, außer dass der junge
Mann zurückhaltender und weniger freigebig als sonst gegen ihn war. Als nun der
Lehrer sah, dass er nicht mehr seinen sonstigen Vorteil von ihm ziehen könne,
so entfernte er sich, und ging zu dem König, welcher das Mädchen bei sich
behalten hatte, und riet ihm zugleich an, denselben umbringen zu lassen. Sodann
erweckte er in ihm die Sehnsucht, das Mädchen wieder zu besitzen, und sagte ihm
zugleich, dass er ihrem Herren Gift eingeben, und mit ihr zu ihm zurückkehren
wolle.

Darauf begab er sich wieder hinweg. Der König ließ den
Türsteher holen, und warf ihm seine Tat vor. Dieser indessen stürzte sich auf
den König, und tötete ihn. Auf des Königs Geschrei stürzten seine Diener
herein, bemächtigten sich des Türstehers, und ermordeten ihn.

Der Lehrer aber, als er von seinem Herrn befragt wurde, wo
er gewesen wäre, gestand, dass er von dem Land komme, dessen König die Frau
des Sohnes habe behalten wollen. Dies befremdete alle gar sehr. Sie schöpften
einigen Verdacht und waren sehr auf ihrer Hut, und von nun an traute ihm niemand
mehr. Der Lehrer aber beschäftigte sich damit, dass er Früchte einlegte und
andere Süßigkeiten bereitete, in die er starkes Gift mischte, und sie sodann
seinem ehemaligen Zögling überreichte.

Als dieser die Süßigkeiten sah, sprach er bei sich
selbst. „Das wundert mich von dem Lehrer, und gewiss ist in diesem Geschenk
etwas schändliches. Ich muss es zuvor an ihm selbst probieren.“

„Sogleich ließ er nun eine Speise bereiten, in
welche er etwas von dieser Süßigkeit tat, und ließ ihn dazu einladen. Als er
ihm diese Speise vorgesetzt, und dieser davon gegessen hatte, zeigten sich
gleich die Wirkungen des Gifts, und er verschied.

Hieraus sah er, dass die List gegen ihn gerichtet gewesen
war, und er sprach: „Das Schicksal kann nicht abgewandt werden, denn der
Mensch stürzt sich selbst hinein.“