Project Description

874. Nacht

So hatte sie ihn eine geraume Zeit hingehalten, als sie
endlich schwanger wurde. Im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft wurde Sul Jesu krank. Als seine Krankheit zunahm, berief
er die Vornehmsten seines Hofes, benachrichtigte sie von dem Zustand Kamryes,
empfahl sie ihnen und verordnete, dass, wenn sie einen Sohn gebären sollte,
dieser ihr König sein solle. Diesen Befehl gelobten sie zu gehorchen, und nach
wenigen Tagen verschied Sul Jesu. Kamrye beherrschte nunmehr das Land, bis sie
einen Knaben zur Welt brachte. Dieser war von ausgezeichneter Schönheit, und
hatte ein kleines Mahl auf der Wange. Als sie ihn sah, ergriff sie der Neid und
sie sprach bei sich selbst: „Wie? Dieser sollte mir das Reich entreißen?
Nein, das soll nicht geschehen, und von der Zeit an ging sie mit dem Gedanken
um, ihn zu töten. Nach vierzig Tagen verlangte das Volk seinen König zu sehen.
Sie zeigte ihm denselben und setzte ihn auf den Thron des Königreiches, worauf
sie ihm huldigten, und sich dann zerstreuten. Seine Mutter nahm ihn nun in den
Palast zurück, ihr Neid nahm so zu, dass sie einst schon das Schwert ergriffen
hatte, um ihn zu töten, als ihre Amme eintrat, und sie fragte, was sie vor
habe? „Töten will ich ihn,“ erwiderte sie. – „Hast Du nicht
bedacht,“ entgegnete jene, „dass wenn Du ihn tötest, sein Volk sich
empören wird und auch Dich umbringen kann?“ – „Lass mich ihn
töten,“ fuhr sie fort, „mögen sie mich auch umbringen, so bin ich
doch erlöst von diesem Neid.“ – „Tue es nicht,“ warnte jene,
„Du wirst es bereuen, wenn die Reue Dir nichts mehr helfen kann.“ –
„Es muss geschehen,“ sagte Kamrye. – „Nun, wenn es nicht
abzuwenden ist, so wirf ihn wenigstens in die Wüste. Bleibt er am Leben, so
ist’s ein Glück für ihn, stirbt er, so bist Du befreit für immer.“
Diesen Rat befolgte sie, und zur Nachtzeit begaben sie sich mit dem Kind auf den
Weg, und heilten in einer Entfernung von vier Tagesreisen an, wo sie sich in der
Wüste unter einen Baum setzten. Sie nahm ihn auf ihren Schoß, und säugte ihn
noch einmal, dann legte sie ihn auf ein Bett, und unter sein Haupt einen Beutel
mit tausend Goldstücken und viele Edelsteine. „Wer ihn findet,“ sagte
sie hierauf, „kann ihn für dieses Geld erziehen,“ und so verließen
sie ihn. Durch Gottes gnädige Veranlassung geschah es, dass
Jäger, die auf der Gazellenjagd waren, eine Gazelle mit einem Jungen
überraschten. Die erste nahm die Flucht und die Jäger nahmen das Kleine mit
sich. Als die Mutter von der Weide zurückkehrte, und ihr Junges nicht mehr
fand, so durcheilte sie die Wüste nach allen Richtungen, um es zu suchen, bis
endlich das Weinen des ausgesetzten Kindes sie zu demselben hinlockte. Sie legte
sich neben dasselbe, und das Kind saugte an ihr. Die Gazelle verließ es darauf
wieder, ging weiden, und kehre, wenn sie wieder voll Nahrung war, jedes Mal zu
dem Kleinen zurück. Dieses trieb sie so lange, bis es Gott gefiel, dass sie
einst in die Netze eines Jägers geriet. Da wurde sie wütend, zerriss das Netz
und floh. Der Jäger verfolgte sie, und ereilte sie, als sie bei dem Kleinen
ankam, und ihm zu trinken geben wollte: Doch die Ankunft des Jägers zwang die
Gazelle zu fliehen, und der Kleine weinte, weil er noch nicht gesättigt war.
Der Jäger erstaunte über den Anblick, hob das Kind auf, fand unter seinem Kopf
den Beutel und bemerkte zugleich an seinem Hals eine Juwelenschnur. Sofort nahm
er das Kind zu sich, und gelangte an eine Stadt, die einem abessinischen König,
mit Namen Sarach gehörte, der dem König Seif Arr-add untertan war. Diesem
übergab er das Kind, mit der Bemerkung, dass er es in einem Gazellenlager
gefunden habe. Als jener das Kind in Empfang nahm, lachte es ihn freundlich an,
und Gott erweckte in ihm Liebe zu demselben. Zugleich bemerkte er das Mal an
seiner Wange.