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86. Nacht

„Ich erwartete nur den Tod, als ich den Stein
aufheben hörte. Man ließ eine Leiche und eine lebendige Person herab. Der Tote
war ein Mann. Es ist natürlich, in äußersten Fällen äußerste Entschlüsse
zu fassen. Während man die Frau herabließ, nahte ich mich dem Ort, an welchen
ihre Bahre zu stehen kommen sollte und als ich sah, dass man die öffnung des
Brunnens wieder bedeckte, gab ich der Unglücklichen mit einem großen Knochen,
dessen ich mich bemächtigt hatte, zwei oder drei starke Schläge auf den Kopf.
Sie wurde davon betäubt, aber ich schlug sie viel mehr, und da ich diese
unmenschliche Handlung nur beging, um das auf der Bahre befindliche Brot und
Wasser zu benutzen. So hatte ich Vorrat auf einige Tage. Nach Verlauf dieser
Zeit ließ man wieder eine tote Frau und einen lebenden Mann herab, den ich auf
dieselbe Weise tötete und so fehlte es mir, durch die wiederholte Anwendung
desselben Mittels, niemals an Lebensmitteln.

Eines Tages, als ich eben wieder eine Frau in jene Welt
geschickt hatte, hörte ich schnaufen und gehen. Ich ging auf die Seite zu, von
welcher es herkam, hörte bei meiner Annäherung stärker schnaufen und es
schien mir, als sähe ich etwas, was die Flucht ergriff. Ich folgte dieser Art
von Schatten, die auf Augenblicke still stand und im Fliehen immer umso stärker
schnaufte, je näher ich kam. Ich verfolgte sie so lange und so weit, dass ich
endlich Licht, gleich einem Stern erblickte. Ich fuhr fort, auf das Licht
zuzugehen, verlor es zuweilen durch Hindernisse, die es verbargen, fand es aber
immer wieder und entdeckte endlich, dass es durch eine öffnung des Felsens kam,
die groß genug war, um durchzukommen.

Nach dieser Entdeckung blieb ich eine Weile stehen, um
mich von meinem heftigen Gange zu erholen und als ich hierauf bis zu der
öffnung gekommen war, ging ich durch und befand mich nun am Meeresufer. Stellt
euch das übermaß meiner Freude vor. Es war so groß, dass ich Mühe hatte,
mich zu überzeugen, was ich sähe, sei kein Traum. Als ich mich von der
Wirklichkeit der Sache überzeugt hatte, und meine Sinne wieder in ihrem
natürlichen Zustand waren, begriff ich wohl, dass das Ding, welches ich hatte
schnaufen hören und welchem ich gefolgt war, ein aus dem Meer gekommenes Tier
wäre, welches in die Höhle zu kommen pflegte, um sich dort von den Leichen zu
ernähren.

Ich untersuchte den Berg und fand, dass er zwischen der
Stadt und dem Meer lag, doch ohne Verbindung durch einen Weg, weil er so steil
war, dass ihn die Natur unbesteigbar gemacht hatte. Ich warf mich am Ufer
nieder, um Gott für die mir eben erwiesene Gnade zu danken. Hierauf kehrte ich
in die Höhle zurück, um mir Brot zu holen, welches ich bei größerem Appetit
aß, als ich’s je, seit meiner Einsperrung in diesen finsteren Ort, gegessen
hatte.

Ich ging nochmals in die Höhle und sammelte tastend alle
Diamanten, Rubine, Perlen, goldene Armbänder, kurz alle reiche Stoffe, die ich
unter meinen Händen fand, zusammen, und trug das alles ans Meeresufer. Ich
machte mehrere Ballen daraus, die ich säuberlich mit Stricken umband, welche
zum Herablassen der Bahren gedient hatten und in großer Menge vorhanden waren.
Ich ließ die Ballen in Erwartung einer guten Gelegenheit am Ufer, ohne zu
befürchten, dass der Regen sie verderben könnte, denn es war eben nicht
Regenzeit.

Nach Verlauf von zwei oder drei Tagen erblickte ich ein
Schiff, welches eben aus dem Hafen kam und bei dem Ort, an dem ich mich befand,
vorbeisegelte. Ich winkte mit der Leinwand meines Turbans und schrie aus
Leibeskräften, um mich hörbar zu machen. Man hörte mich und schickte das Boot
ab, um mich zu holen. Auf die Frage des Matrosen, durch welchen Unfall ich mich
an diesem Ort befände, erwiderte ich, dass ich mich vor zwei Tagen mit den
Waren, welche sie sähen, aus einem Schiffbruch gerettet hätte. Zum Glück für
mich begnügten sich diese Leute, ohne den Ort, wo ich mich befand zu
untersuchen, mit meiner Antwort und nahmen mich nebst meinen Ballen mit sich.

Als wir an Bord gekommen waren, hatte der
Schiffshauptmann, der über die mir verursachte Freude vergnügt und mit dem
Befehl des Schiffes beschäftigt war, ebenfalls die Güte, sich mit meinem
vorgegebenen Schiffbruch abspeisen zu lassen. Ich bot ihm einige meiner
Edelsteine an. Er wollte sie aber nicht annehmen.

Wir schifften bei mehreren Inseln vorbei, unter anderen
bei der Insel Nacous (Schelleninsel), welche, bei regelmäßigem Wind, zehn
Tagesreisen von der Insel Gerendib1)
und sechs von der Insel Kela entfernt ist, an welcher letzteren wir landeten2).
Man findet dort Bleigruben, indianische Röhre und trefflichen Kampfer.

Der König der Insel Kela ist sehr reich, sehr mächtig
und seine Gewalt erstreckt sich über die ganze Schelleninsel, welche zwei
Tagesreisen Umfang hat und deren Einwohner noch so barbarisch sind, dass sie
Menschenfleisch fressen. Nachdem wir auf dieser Insel große Handelsgeschäfte
gemacht hatten, gingen wir wieder unter Segel, und landeten an mehreren anderen
Häfen. Endlich langte ich mit unermesslichen Reichtümern, deren nähere
Schilderung unnütz wäre, glücklich in Bagdad an. Um Gott für die mir
erwiesenen Gnaden zu danken, verteilte ich große Almosen, sowohl zum Unterhalt
mehrere Moscheen, als auch vieler Armen, und widmete mich ganz und gar meinen
Verwandten und Freunden, indem ich mit ihnen gut tafelte und mich
ergötzte.“

Sindbad beendigte hier die Erzählung seiner vierten
Reise, welche bei seinen Zuhörern noch mehr Bewunderung erregte, als die drei
vorhergegangenen. Er machte dem Hindbad ein neues Geschenk von hundert Zeckinen,
und lud ihn, gleich den andern, ein, am folgenden Tag zu derselben Stunde wieder
zum Mittagsmahl zu ihm zu kommen, um den Bericht von seiner fünften Reise zu
hören. Hindbad und die anderen Gäste beurlaubten sich und gingen nach Hause.

Als sie am anderen Tage alle beisammen waren, setzten sie
sich zu Tisch, und am Ende des Mahles, welches nicht länger als die früheren
dauerte, fing Sindbad auf folgende Weise die Erzählung seiner fünften Reise
an:

Fünfte
Reise
Sindbads des Seefahrers, nach den Sundischen Inseln

„Noch,“ sagte er, „hatten die Vergnügungen
Reise genug für mich, um aus meinem Gedächtnis alle erlittenen Beschwerden und
übel auszulöschen, ohne mir die Luft zu neuen Reisen zu benehmen. Ich kaufte
demnach Waren ein, ließ sie einpacken und auf Wagen laden, und reiste nach dem
nächsten Seehafen. Dort nahm ich mir die Zeit, um nicht von einem
Schiffshauptmann abzuhängen und um ein Fahrzeug ganz zu meinem Befehl zu haben,
mir eins auf meine Kosten bauen und ausrüsten zu lassen. Sobald es vollendet
war, ließ ich es beladen, schiffte mich darauf ein, und da mein Vorrat von
Waren zu einer vollständigen Ladung nicht hinreichte, so nahm ich Kaufleute von
verschiedenen Völkern mit ihren Waren an Bord.

Wir gingen bei dem ersten guten Wind unter Segel und
suchten das Weite. Der erste Ort, wo wir nach einer langen Fahrt landeten, war
eine wüste Insel, auf welcher wir das Ei eines Roches, von derselben Größe,
wie das bereits erwähnte, fanden. Es enthielt einen kleinen Roch, der eben
auskriechen wollte und dessen Schnabel bereits zum Vorschein kam.


1)
Arabischer Name der Insel Ceylon.