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85. Nacht

„Stellt euch meinen Schmerz vor! Lebendig begraben zu
werden schien mir kein minder beklagenswertes Los, als den Menschenfressern zur
Speise zu dienen, und doch musst‘ ich dran. Der König wollte mit seinem ganzen
Hof den Leichenzug mit seiner Gegenwart beehren, und auch die angesehensten
Personen der Stadt erzeigten mir die Ehre, meinem Begräbnis beizuwohnen.

Als Alles zu der Feierlichkeit bereit war, legte man den
Leichnam meiner Frau auf eine Bahre, angetan mit allem ihrem Geschmeide und
ihren prächtigsten Kleidern. Der Zug begann. Als zweiter Schauspieler dieses
kläglichen Trauerspiels folgte ich unmittelbar hinter der Bahre meiner Frau,
die Augen in Tränen gebadet und mein unglückliches Geschick beklagend. Ehe wir
an den Berg kamen, wollte ich einen Versuch auf den Geist der Zuschauer machen.
Ich wandte mich an den König, hierauf an die, welche in meiner Nähe waren, und
mich vor ihnen bis auf die Erde bückend, um den Saum ihres Kleides zu küssen,
bat ich sie, Mitleid mit mir zu haben. „Bedenkt,“ sagte ich,
„dass ich ein Fremder bin, der keinem so strengen Gesetz unterworfen sein
sollte, und dass ich eine andere Frau und Kinder in meinem Vaterland habe.“
Doch auf wie rührende Weise ich auch diese Worte sagte, niemand wurde dadurch
bewegt. Man beeilte sich im Gegenteil, die Leiche meiner Frau in den Brunnen
herabzulassen, und man ließ mich gleich nachher in einer andern offenen Bahre,
mit dem Wasser angefüllten Gefäß und sieben Broten herab. Als nun endlich
diese für mich so traurige Feierlichkeit vorbei war, legte man ohne Rücksicht
auf das übermaß meines Schmerzes und auf mein klägliches Geschrei, den Stein
wieder auf die öffnung des Brunnens.

Mich dem Grund nähernd, erkannte ich mit Hilfe eines von
oben einfallenden geringen Lichtes die Anlage und Beschaffenheit dieses Orts. Es
war eine sehr weite Höhle, die wohl fünfzig Ellen tief sein mochte. Ein
unausstehlicher Gestank verbreitete sich von einer zahllosen Menge von Leichen,
die ich rechts und links erblickte. Es kam mir sogar vor, als hörte ich von
einigen der zuletzt lebendig herabgelassenen die letzten Seufzer. Dessen
ungeachtet entfernte mich von den Leichen, indem ich mir die Nase zuhielt. Ich
warf mich auf die Erde und blieb lange, in Tränen ertränkt, liegen. Hierauf,
mein trauriges Schicksal bedenkend, sagte ich zu mir: „Es ist wahr, dass
Gott über uns nach den Ratschlägen seiner Vorsehung schaltet. Aber, armer
Sindbad, ist es nicht deine Schuld, dass du dich dahin gebracht siehst, eines so
seltsamen Todes zu sterben? Wollte Gott, du wärst in einem der Schiffbrüche
umgekommen, denen du entgangen bist, du brachtest dann nicht eines so langsamen
und schrecklichen Todes zu sterben. Aber du hast ihn durch deinen verdammten
Geiz verdient! Unglücklicher! Solltest du nicht lieber daheim bleiben, und die
Früchte deiner Anstrengungen in Ruhe genießen?“

Dies waren die unnützen Klagen, von welchen ich die
Höhle widerhallen ließ, indem ich mich aus Wut und Verzweiflung vor den Kopf
und die Brust schlug und mich ganz und gar den traurigsten Gedanken überließ.
Dessen ungeachtet, – muss ich’s euch gestehen? – statt mir den Tod zu Hilfe zu
rufen, regte sich doch, so elend ich auch war, die Liebe zum Leben in mir, und
trieb mich an, meine Tage zu verlängern. Tappend und mir die Nase zuhaltend,
holte ich das Brot und Wasser aus meiner Bahre, und aß und trank davon.

Obgleich die in der Grotte herrschende Dunkelheit so groß
war, dass man Tag und Nacht nicht unterscheiden konnte, so fand ich doch meine
Bahre wieder, und es schien mir, als ob die Höhle geräumiger und mit Leichen
angefüllter wäre, als ich anfangs geglaubt hatte. Ich lebte einige Tage von
meinem Brot und Wasser. Da ich aber endlich nichts mehr hatte, so bereitete ich
mich zum Tode …“