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812. Nacht

„Ihr seht es, hohe Frau,“ antwortete Naama,
„die Gefahr, der ich mich hier aussetze, beweist genugsam das übermaß
seiner Liebe.“

„Und ihr, Naam,“ wandte sich die Schwester des
Kalifen zu der jungen Sklavin, „ihr liebt also auch Euren Herrn recht
sehr?“

„Gebieterin,“ antwortete Naam, „diese Liebe
war die Ursache des Hinschmachtens, in welches ich versunken war.“

Die Prinzessin forderte sodann Naam auf, die Zither zu
spielen, und ließ eine herbeibringen. Naam stimmte sie, machte ein Vorspiel,
und sang hierauf, sich begleitend, einige Verse, in welchen sie der Prinzessin
die Dankbarkeit ausdrückte, von welcher sie für ihre Güte durchdrungen war,
Naam gab alsdann die Zither an Naama, welcher, nachdem er einige Verse desselben
Inhalts gesunden hatte, sie der Prinzessin überreichte. Diese machte keine
Schwierigkeit, das Instrument anzunehmen, und sang selber einige Verse über das
Glück der wahren Liebenden.

Während dieses hier vorging, trat der Kalif Abdel-Malek
ebn Mervan plötzlich in das Zimmer der Prinzessin. Die beiden Liebenden standen
sogleich auf, und warfen sich dem Kalifen zu Füßen, der sie freundlich
aufstehen hieß. Seine Blicke verweilten mit Wohlgefallen auf Naam; und als er
eine Zither bei ihr bemerkte, wünschte er ihr Glück zur Wiederkehr ihrer
Gesundheit. Als er hierauf die Augen auf den verkleideten Naam warf, fragte er
seine Schwester, wer die junge Sklavin wäre, welche er bei Naam sitzen sähe.

„Großmächtiger Beherrscher der Gläubigen,“
antwortete ihm die Prinzessin, „es ist ein junges Mädchen, welche seit
ihren frühesten Jahren mit Eurer Sklavin zusammen gewesen, und ohne welche ihr
das Leben unerträglich ist.“

„In Wahrheit,“ sagte der Kalif, „diese
Sklavin ist reizend und ebenso schön, wie Naam: Von morgen an will ich ihr ein
Zimmer neben dem ihrer Gespielin bereiten lassen und ihr alle Putzsachen senden,
welche ihr Vergnügen machen können, in Rücksicht auf die Freundschaft, welche
Naam für sie hegt.“

Die Prinzessin ließ sogleich vor dem Kalifen, welcher
sich gesetzt hatte, Erfrischungen auftragen. Er nahm etwas davon, und forderte
Naam auf, die Zither zu spielen. Sie tat es, und sang dazu Verse zum Lob des
Kalifen. Dieser Fürst ergötzte sich sehr, sie zu hören; und als sie geendigt
hatte, dankte er für das Vergnügen, welches sie ihm gewährt hätte, und lobte
sehr den Umfang und die Schönheit ihrer Stimme.

Gegen Mitternacht sprach die Prinzessin also zu ihrem
Bruder:

„Großmächtiger Beherrscher der Gläubigen, Naam,
die kaum in der Genesung ist, muss durch ihr Singen und durch ihre Teilnahme an
der Gesellschaft den ganzen Abend hindurch äußerst ermüdet sein. Wenn es Euch
angenehm ist, so will ich Euch jetzt eine Geschichte erzählen, welche ich einst
gelesen habe.“

Nachdem der Kalif ihr bezeugt hatte, dass es ihm
Vergnügen machen würde, sie zu hören, fuhr sie also fort:

„Herr, es lebte einst in der Stadt Kufah ein junger
Mann, Namens Naama, Rabia’s Sohn, der eine Sklavin besaß, in welche er
sterblich verliebt war. Diese Sklavin, die mit ihm aufgezogen war, erwiderte
seine Liebe aufs zärtlichste. Kaum hatte er sie geheiratet, als das immerdar
unbeständige Glück ihn mit dem härtesten Schlag traf: Seine Sklavin wurde ihm
eines Tages aus seinem eigenen Haus entführt. Der Räuber verkaufte sie für
zehntausend Goldstücke an einen sehr mächtigen Fürsten, der vergeblich alles
aufbot, um ihre Liebe zu gewinnen.

Naama, in Verzweiflung über den Verlust seiner Sklavin,
verließ seine Familie, seine Habe und sein Haus, um nachzuforschen, was aus ihr
geworden sein möchte, und um alle mögliche Mittel zu ersuchen, sich wieder mit
ihr zu vereinigen. Er setzte sich den größten Gefahren aus, und wagte sogar
sein Leben, um dieses Glück zu erlangen. Kaum hatte er sie wieder gefunden, so
überraschte der Fürst, der sie gekauft hatte, beide beieinander, er entschied
auf der Stelle ihr Schicksal, und wollte sie unverzüglich töten lassen…