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787. Nacht

In seiner Wohnung angelangt, nahm er eine Katze, und
peitschte sie heftig mit einem Riemen. Die Nachbarn hörten das Geschrei dieses
Tieres, und gingen hin, es dem König zu melden, der sogleich den Heykar holen
ließ, und ihn fragte:

„Warum misshandelst Du ein so wehrloses Tier, und das
Dir nichts zu Leide getan hat?“

„Es ist schuldiger, als ihr wähnt,“ antwortete
Heykar, „mein Gebieter Sencharib hatte mir einen schönen Hahn geschenkt,
der eine klangvolle Stimme hatte und unermüdlich alle Stunden des Tages und der
Nacht ausrief: Und nun ist diese Katze, die ich hier züchtige, letzte Nacht
nach Ninive gelaufen, und hat ihn erwürgt.“

„Diese Worte,“ versetzte der König,
„könnten glauben machen, dass Dein hohes Alter Deinen Verstand zu
schwächen beginnt: Wie soll denn, o weiser Heykar, diese Katze in einer
einzigen Nacht nach Ninive gelaufen, und wieder zurück gekommen sein, da Du
doch weißt, dass zwischen Ninive und meiner Hauptstadt ein Raum von
dreihundertundsechzig Meilen ist?“

„Aber, da ihr selber wisst,“ rief Heykar aus,
„dass ein so großer Abstand zwischen Eurer Hauptstadt und Ninive ist, wie
könnt ihr mir denn sagen, dass Eure Stuten das Wiehern eines in den Ställen
meines Königs befindlichen Rosses hören?“

Pharao erkannte hierin eine Beantwortung seiner Frage, und
suchte nun, den Heykar auf eine andere Weise in Verlegenheit zu bringen.

„Was sagst Du,“ fragte er ihn, „von einem
Baumeister, der einen Palast aus 8760 Steinen erbaut, und darin zwölf Bäume
gepflanzt hat, deren jeder dreißig äste, und an jedem Ast eine weiße und eine
schwarze Traube trägt?“

„Ein solches Rätsel,“ antwortete Heykar,
„würde von den unwissendsten Bauern zu Ninive verstanden und erklärt
werden. Der Baumeister ist Gott, der Palast ist das Jahr, und die 8760 Steine
bedeuten die Zahl der Stunden, aus welchen es besteht. Ich habe nicht nötig,
hinzuzufügen, dass die zwölf Bäume und die beiden Trauben von verschiedenen
Farben mit ihren Zahlen die Monate, die Tage und Nächte vorstellen.“

„Nun wohl,“ fuhr Pharao fort, „weil Du mein
Rätsel so gut aufgelöst hast, so fordere ich noch einen letzten Dienst von
Dir. ich habe hier ein Mühlstein in einer Kornmühle, der zersprungen ist:
Wärst Du wohl so gefällig, ihn mir wieder zusammen zu nähen?“

„Es gibt nichts, das ich nicht Euch zu Gefallen
unternähme,“ antwortete Heykar und sogleich ließ er sich durch einen
seiner Sklaven einen Kiesel bringen, hielt ihm dem König hin, und sprach dabei:

„Ihr wisst wohl, mein Fürst, dass ich hier in einem
fremden Land bin und nicht das nötige Werkzeug bei mir habe, um mich an die
Arbeit zu setzen: Geruht also, einem Eurer Werkleute zu befehlen, mir aus diesem
Kiesel eine Ahle, Schere und Feile zu machen, damit ich Euren Mühlstein
zusammen nähe.“

Bei dieser Antwort Heykars konnte der König von ägypten
sich nicht enthalten zu lachen: Er bewunderte je mehr und mehr den Scharfsinn
seines Geistes und das Treffende seiner Antworten. Da er nun sah, dass der
Minister Sencharibs auf so sinnreiche und genügende Weise alle die schwierigen
Aufgaben gelöst, welche er ihm vorgelegt hatte, so war er der erste, der sich
für überwunden bekannte, und wollte auf edle Weise die Bedingungen der
Ausforderung erfüllen. Er ließ Heykar mit einem prächtigen Chila1)
bekleiden, überhäufte ihn mit Geschenken, zählte ihm die dreijährigen
Einkünfte ägyptens auf, und nachdem er ihm die höchsten Ehren erwiesen hatte,
befahl er, Kamele zu bereiten, um die dem König von Ninive bestimmten Geschenke
zu tragen.

„Kehre in Frieden heim,“ sagte er zu Heykar,
„und möge Sencharib in den Geschenken, welche ich ihm sende, ein Zeichen
meiner Freundschaft erkennen. Diese Geschenke sind zwar seiner nicht würdig,
aber eine Kleinigkeit vergnügt die Könige. Und du, der Ruhm und die Ehre
Deines Herrn, o weiser Heykar, sage ihm vor allem, dass ich ihm glück wünsche,
einen solchen Minister zu haben, wie Du bist!“

Sencharibs Gesandter warf sich vor Pharao nieder, drückte
ihm seine Erkenntlichkeit aus, und bat ihn, zu befehlen, dass alle assyrische
Untertanen, die nach ägypten ausgewandert waren, in ihre Heimat zurückkehren
sollten.

dieser Befehl wurde auf der Stelle erlassen, und Heykar,
zufrieden seine Sendung erfüllt zu haben, nahm endlich Abschied von dem
ägyptischen König.

Kaum hatte Sencharib die Nachricht von seiner Heimkehr
vernommen, als er Ninive verließ, und ihm entgegen kam. Bei seinem Anblick
entflossen Freudentränen seinen Augen. Er überließ sich ganz dem Erguss der
Freundschaft und Dankbarkeit, er nannte ihn seinen Vater, seine Stütze, den
Ruhm seiner Herrschaft, den Retter seines Reichs, er bat ihn, selber die
Belohnung seiner Verdienste zu bestimmen, und versprach ihm alles zu gewähren,
und wenn er selbst seine Krone verlangte.

„Herr,“ antwortete Heykar, „mein einziger
Ehrgeiz war, Euch zu dienen, und dieser Ehrgeiz ist befriedigt. Nicht also für
mich nehme ich Eure Wohltaten an, aber dass ich mich noch des Lebens erfreue,
verdanke ich, wie ihr wisst, allein Gott und dem edelmütigen Abu-Someika.
übernehmt diese Schuld der Dankbarkeit für mich, und ich werde immerdar Euren
Namen segnen.“

„Diese Schuld ist auch die meinige,“ rief
Sencharib aus und als er in seinen Palast zurückgekommen war, kannte seine
königliche Freigebigkeit keine Grenzen mehr: Obwohl Abu-Someika schon mit
seinen Geschenken überhäuft war, so glaubte er doch noch nicht genug getan zu
haben, er erteilte ihm neue Begünstigungen und wies ihm ansehnliche Einkünfte
an.

Sobald der König mit Heykar allein war, verlangte er von
ihm den Bericht seiner Reise und umständliche Erzählung von allem, was
zwischen ihm und Pharao vorgegangen wäre. Heykar befriedigte auf der Stelle
seine Neugier, und ließ ihm die Geschenkte und den Tribut des Königs von
ägypten darbringen.

„Ich sage dem höchsten Wesen Dank,“ sprach
Sencharib, „der dich siegreich aus Pharaos Händen geführt, nachdem er
Dich den Nachstellungen eines Verleumders entzogen hat. Der König von ägypten
ist durch Diene Weisheit besiegt, o Heykar! Nunmehr ist es an mir, Dich an der
Treulosigkeit und Undankbarkeit Deines Neffen zu rächen.“

Zugleich befahl der König von Assyrien, den Nadan
festzunehmen, und hinzurichten. Da warf sich Heykar zu seinen Füßen und
sprach:

„Mein König, überlasst mir die Sorge meiner Rache:
übergebt den Nadan meiner Gewalt, damit ich selber ihm die Strafe zufüge,
welche sein Verbrechen verdient hat. Ich nehme dieses als Recht in Anspruch:
Sein Blut gehört mir zu, nachdem ihr beschlossen habt, es für mich zu
vergießen.“

Heykars geheime Absicht war, dem Undankbaren das Leben zu
retten, welcher dem seinigen nachgestellt hatte. Anstatt aller Rache, wollte er
ihn fortan nur in die Unmöglichkeit versetzen, Schaden zu stiften, und ihn so
seinen Gewissensbissen überlassen, überzeugt, dass dies keine geringe Strafe
für den Schuldigen wäre.


1)
Bekanntlich ist der Chila, der gewöhnlich in einem kostbaren Pelz besteht, ein
Ehrenkleid, welches die morgenländischen Fürsten denjenigen ihrer Untertanen
zu gewähren pflegen, welchen sie einen Beweis ihrer großen Zufriedenheit geben
wollen.