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782. Nacht

Die erste Bewegung Sencharibs bei Lesung dieses Briefes
war Unwillen. Bei alle dem musste er einen Entschluss fassen, und die
Verlegenheit begann.

Nachdem er den Großen seines Hofes die seltsame Forderung
des Königs von ägypten mitgeteilt, und sich völlig überzeugt hatte, dass
keiner von ihnen es übernehmen wollte, darauf zu antworten, berief er eine
große Versammlung von gelehrten, Weisen, Naturkundigen und Sterndeutern.

„Wer unter Euch,“ sprach er zu ihnen, „will
sich an den Hof Pharaos begeben und seine Aufgaben lösen?“

Bei dieser Aufforderung standen alle bestürzt da.

„Es gab in Euren Staaten nur einen einzigen
Mann,“ sprachen sie zu ihm, „der im Stande gewesen wäre, diese
spitzfindigen Fragen zu lösen, und dieser Mann war der weise Heykar. Keiner von
uns vermöchte, ihn zu ersetzen: Sein Neffe Nadan allein, dem er seine Weisheit
mitgeteilt hatte, könnte die Lösung von dergleichen Schwierigkeiten
übernehmen.“

Als nun Nadan befragt wurde, begnügte er sich, zu
erklären, dass Pharaos Forderung unsinnig wäre, und man müsste ihn nach
seinem Gefallen eingebildete und unmögliche Dinge erträumen lassen, ohne sich
mit einer Antwort darauf zu behelligen.

Bei diesen Worten versank Sencharib wieder in tiefe
Traurigkeit: Jetzt erst fühlte er mit ganzer Bitterkeit Heykars Verlust. Er
stieg von seinem Thron, setzte sich in die Asche, und Tränenströme
entstürzten seinen Augen.

„Heykar, mein vielgeliebter Heykar!“, reif er
mit dem Ton des tiefsten Schmerzes aus, „warum bist Du nicht mehr an meiner
Seite? Du hättest mit einem einzigen Wort die Rätsel Pharaos aufgelöst. Du,
der alle Geheimnisse der Wissenschaft inne hatte, und dem nichts verborgen war,
was auf Erden vorgeht. Du warst mein Ruhm, und ich habe Dich hinrichten lassen!
Ich Unglückseliger! Wie konnte ich Dich töten lassen, auf das bloße Wort
eines Jünglings ohne Erfahrung, – und vielleicht ohne Tugend? Wehe! Ich habe
Dich mit beklagenswerter übereilung verdammt. Ich ernte jetzt die Früchte
davon. Gewissensbisse werden unaufhörlich mein Leben beunruhigen, und nur mit
demselben enden. Ach! Wenn jemand Dich wieder ins Leben rufen und mir wieder
zuführen könnte, die Hälfte meines Reiches sollte ihm gehören!“

Abu-Someika, der Zeuge dieses Schmerzes des Königs war,
zweifelte nicht mehr an seiner Reue. Die Tränen, welche er fließen sah,
verhießen ihm Heykars Begnadigung, und er erkannte, dass die Stunde der
Befreiung für den unglücklichen Wesir geschlagen hatte.

Er nahte sich also ehrfurchtsvoll dem König, fiel ihm zu
Füßen und sprach:

„Herr, befehlt meinen Tod!“

„Was hast Du denn verbrochen?“, fragte Sencharib
verwundert.

„Jeder Untertan, der seinem Herrn nicht gehorcht,
verdient den Tod,“ fuhr Abu-Someika fort, „und ich bin Euch ungehorsam
gewesen.“

Und hierauf erzählte er, wie er, überzeugt von Heykars
Unschuld, an seiner Stelle einen schuldigen Sklaven hingerichtet hatte. „Heykar,“
fügte er hinzu, „ist noch am leben. Und wenn ihr es erlaubt, so will ich
ihn auf der Stelle Euren Augen zeigen. Indem ich ihn für Euch erhielt, glaubte
ich dem Staat einen Dienst zu leisten. Das, Herr, ist mein Verbrechen: Gebietet
nun meinen Tod, oder meine Begnadigung. Mein Leben steht in Eurer Hand.“