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781. Nacht

Unterdessen kommt der Schafrichter: Er hieß Abu-Someika.
Der König befiehlt ihm, Heykar zu ergreifen und ihm vor seiner eigenen Haustür
das Haupt abzuschlagen.

Heykar, der jetzt erst wieder zu sich gekommen war, ließ
sich nur in folgenden Worten vernehmen: „Ihr habt meinen Tod befohlen, und
ich ehre den Willen meines Königs: Möge mein Hintritt zur Wohlfahrt Eures
Reiches ausschlagen. Aber ich bin unschuldig, und es wird ein Tag kommen, wo die
Bösewichter on ihren Handlungen Rechenschaft geben müssen. Ich bitte nur um
die letzte Gnade, dass mein Leichnam meinen Sklaven übergeben werde, damit sie
mir die Ehre der Bestattung erweisen.“

Der König bewilligte diesen letzten Wunsch Heykars, und
als dieser den Augenblick seiner Hinrichtung herannahen sah, schickte er zu
seiner Gattin, und hieß sie eine große Anzahl junger Sklavinnen versammeln,
sie prächtig ankleiden, und mit ihnen zu ihm kommen, um seinen Tod zu beweinen.
Zugleich trug er ihr auf, für Abu-Someika und die Soldaten seines Gefolges eine
prächtige Tafel zu bereiten, welche mit Speisen und Weinen aller Art im
überfluss besetzt wäre.

Heykars Gemahlin, die mit durchdringendem Scharfsinn
begabt war und viel Verstand und Klugheit damit vereinigte, begriff bald die
Absicht dieses Befehls, und vollzog ihn getreulich. Und als der Scharfrichter
mit seinen Leuten ankam, fanden sie ein prächtiges Mahl, welches sie erwartete:
Man schenkte ihnen die köstlichsten Wein im übermaß und da sie sich gierig
den Vergnügungen der Tafel überließen, so wurden sie bald berauscht.

Heykar, der diesen Augenblick mit Ungeduld erwartete, nahm
Abu-Someika bei Seite und sprach also zu ihm:

„Erinnere Dich, Abu-Someika, des Tages, wo der König
Sarchadom, Sencharibs Vater, Deinen Tod befahl: Du weißt, dass ich Dich mit in
mein Haus nahm und Dich an einem heimlichen Ort verbarg, um abzuwarten, bis der
Zorn des Königs sich besänftigt hätte. Was ich vorausgesehen hatte, geschah:
Auf die Entrüstung folgte bald die Reue. Als ich überzeugt war, dass Sarchadom
Deinen Verlust bitterlich bedauerte, stellte ich Dich ihm vor, und sein Herz
wurde bei Deinem Anblick von Freuden erfüllt. So verdankst Du meiner
Veranstaltung Dein Leben. Vergiss nicht dieser Wohltat, o Abu-Someika! Tue heute
für mich, was ich damals tat, Dich zu retten. Ich bin das Schlachtopfer einer
Verleumdung, und der König ist nur getäuscht: Heute verurteilt er mich, und
morgen vielleicht schon beweint er meinen Tod.

In meinem Haus befindet sich ein aller Welt unbekanntes
unterirdisches Gemach. Erlaube, dass dieses mein Zufluchtsort sei, und meine
Frau allein um das Geheimnis wisse. Einer meiner Sklaven, dessen Verbrechen den
Tod verdient haben, ist gegenwärtig in meinen Gefängnissen versperrt: Der muss
alsbald herausgezogen, mit meinen Kleidern bedeckt und an meiner Statt
hingereichtet werden. Deine Leute, die berauscht sind, vermögen nicht, die
Verwechslung zu bemerken. Du überlieferst hierauf den Leichnam meinen Sklaven,
um ihn zu bestatten, so wie es Sencharib verfügt hat. Auf solche Weise, o
Abu-Someika, wirst Du Dir ewigen Anspruch auf meine Erkenntlichkeit erwerben,
und zugleich dem König und Heykar einen Dienst erweisen.“

Abu-Someika war kein Undankbarer, er tat getreulich alles,
was sein alter Wohltäter ihm vorschrieb, und die Täuschung gelang vollkommen.
man ging auf der Stelle hin zu dem König und verkündete ihm, dass sein
Minister aufgehört hätte zu leben.

Heykars Gattin, welche allein seinen Aufenthalt kannte,
stieg alle Woche nur einmal in das Gewölbe hinab, um ihm Lebensmittel zu
bringen.

Bald verbreitete sich in Ninive und in den Provinzen das
Gerücht, dass der König seinen ersten Minister hatte hinrichten lassen. Das
allgemeine Bedauern, welches dieser Verlust verursachte, wurde in allen Teilen
des Reiches laut: „tugendhafter Heykar,“ rief man überall aus,
„wie sehr vermissen wir Deine Wissenschaft, Deine Geschicklichkeit, Deine
Weisheit! wie groß wird nicht, nach Deinem Tod, die Schmach des Reiches werden!
Wo wird der König von Assyrien jemand finden, einen Minister, wie Du warst, zu
ersetzen?…“

Sencharib seinerseits fühlte auch bald den ganzen Umfang
seines Verlustes. Die Reue presste ihm Tränen aus, und er überließ sich
vergeblichen Wehklagen.

Eines Tages wollte er öffentliche Beweise seiner
Betrübnis ablegen, und befahl Nadan, alle Freunde seines Oheims zu versammeln,
und ihnen Trauerkleider anzuziehen, auf dem Grab Heykars zu wehklagen und seinem
Gedächtnis eine Totenfeier zu widmen. Aber der gräuliche Nadan, anstatt diesen
Befehl, der ihm hätte geheiligt sein sollen, zu erfüllen, versammelte eine
Bande eben so nichtswürdiger und verderbter junger Leute, wie er war, und lud
sie zu einem Fest in das haus seins Oheims selber: Und hier überließ er sich
mit ihnen allen Ausschweifungen einerzügellosen Lustigkeit. Er schlug die
Sklaven mit der äußersten Grausamkeit, ehrte selbst nicht die Witwe seines
Oheims, welche ihm in seiner Kindheit so viel Sorgfalt erwiesen hatte, und trieb
die Niederträchtigkeit so weit, sogar verruchte Reden gegen sie zu führen.

Der unglückliche Heykar hörte all diesen Lärm in der
Tiefe seines Zufluchtsorts. Er hub seine Arme gen Himmel und schickte zu Gott
heiße Gebete empor, welche nur durch seine Seufzer unterbrochen wurden.

Abu-Someika kam manchmal, unter Begünstigung der Nacht,
in das Gewölbe, und seine Tröstungen erleichterten die Leiden des Gefangenen:
Er vermischte seine Tränen mit den seinigen, und verließ ihn niemals, ohne
heiße Wünsche für seine Befreiung.

Unterdessen gelangte die Nachricht von Heykars Tod bald in
die benachbarten Königreiche. Schon lange eifersüchtig auf die wachsende Macht
Ninives, freuten sich alle Könige darüber. Sie wussten aus Erfahrung, welches
übergewicht Heykar dem Thron Assyriens über seine Nachbarn zu geben vermochte.
Nunmehr durch den Tod eines so furchtbaren Mannes ermutigt, erhub der König von
ägypten zuerst das Kriegsbanner, und suchte einen Vorwand zur Feindseligkeit,
um die Staaten Sencharibs zu überziehen: Er schrieb ihm einen Brief, welcher
also lautete:

„Heil und Ehre dem König Sencharib! ägypten ist die
Mutter der Welt: Alle Völker nennen seine Gebäude Wunderwerke. Ich nun will
noch weiter gehen, als die Pharaonen, meine Vorfahren. Ich will einen Palast
zwischen Himmel und Erde bauen. Findet sich in Deinen Staaten ein so geschickter
Baumeister, dieses Wunderwerk auszuführen, und der zugleich so unterrichtet
ist, um ohne Anstoß die schwierigsten Fragen aufzulösen, so sende ihn mir. Ich
verspreche Dir dafür die dreijährigen Einkünfte von ägypten: Wo nicht, so
sollst du mir die dreijährigen Einkünfte von Assyrien entrichten.
Pharao.“