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773. Nacht

Eines Tages erschien der Kadi von Kairo in seinem Diwan,
und sprach zu ihm:

„Herr, ich komme, Euer Majestät von einem
verwickelten Handel Bericht zu erstatten, und eure Befehle darüber zu
vernehmen. Drei des Mordes angeklagte Männer sind mir vorgeführt worden: Zwei
von ihnen haben ihr Verbrechen bekannt, und schon ihre verdiente Bestrafung
empfangen. Aber der dritte behauptet hartnäckig, dass er an dem ihm
angeschuldigten Verbrechen unschuldig sei, und dennoch verurteilt werden müsse.
Ich gestehe Euch, dass ein solcher Widerspruch mich nicht wenig in Verlegenheit
gesetzt hat, und ich bin gekommen, Euer Majestät die Sache vorzutragen, dass
ihr selber sie entscheidet.“

Der König befahl, ihm den Gefangenen zu bringen.

Sobald Selim denjenigen erblickte, welchen der Kadi ihm
vorführte, erkannte er den jungen Mann, den er oft zu Bagdad in seinem Haus
gesehen hatte, aber ohne etwas von seiner überraschung merken zu lassen,
verhörte er ihn, und sprach:

„Man klagt Dich eines Meuchelmordes an.“

„Diese Anklage ist falsch,“ antwortete der junge
Mann, „aber ich verdiene nicht minder den Tod.“

„Wie kannst du den Tod verdienen, wenn Du kein
Verbrechen begangen hast?“, fuhr Selim fort.

„Herr,“ versetzte der Angeklagte, „geruht
meine Geschichte anzuhören:

Ich stand in Verbindung mit einem jungen Mann, der ein
ansehnliches Vermögen geerbt hatte, und wenn ich nicht wüsste, dass er
gegenwärtig in Bagdad ist, so gestehe ich, Herr, ich würde ihn hier glauben:
Es waltet zwischen Euren Zügen und den seinigen eine auffallende ähnlichkeit
ob. Dieser junge Mann hatte eine sehr hübsche Witwe geheiratet, welche er
zärtlich liebte. Eines Tages wurde ich sehr überrascht, als diese Frau mir den
Antrag machte, sie zu entführen, und mit ihr fern von Bagdad zu leben. Sie
sagte mir, sie besäße eine große Menge Edelsteine, welche sie mitnehmen
könnte. Ich widerstand lange ihren verbrecherischen Lockungen, und stellte ihr
die Undankbarkeit vor, einen Freund zu verraten, und sein Vertrauen zu
missbrauchen: Aber alle meine Vorstellungen waren vergeblich, ich musste mich
entschließen, mit ihr zu entfliehen, und sie, hinter dem Rücken ihres Mannes,
weit von der Stadt, welche wir bewohnten, entführen. Wir benutzten die Zeit, wo
er zum Besuch bei einigen Freunden gegangen war. Seine Frau entfernte, unter
allerlei Vorwänden und Aufträgen, all ihr Hausgesinde. Sobald das Haus frei
war, packten wir alle Kostbarkeiten darin zusammen, und entfernten uns in aller
Eile von Bagdad.

Wir wanderten, ohne Aufenthalt, einen Tag und eine Nacht,
aber endlich, von Müdigkeit überwältigt, setzen wir uns am Ufer eines Sees,
in der Nähe eines prächtigen Palastes. Wir unterhielten uns mit der
Betrachtung dieser glänzenden Wohnung, als wir einen jungen Mann in Begleitung
mehrerer Bedienten, die Netze auf ihren Schultern trugen, heraustreten sahen.

Dieser junge Mann näherte sich uns, und meine
Reisegefährtin zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Schöne Frau,“ sprach er zu ihr, „ihr
scheint ermüdet: Wenn der Aufenthalt in meinem Palast Euch angenehm sein
könnte, so würde ich Euch gern einladen, darin auszuruhen.“

Sie nahm mit Freuden dieses Erbieten an, und unterließ
dabei nicht, ihren Schleier zu lüften, um sehen zu lassen, wie schön sie
wäre. Der Prinz (denn dieser junge Mann war der Neffe des Königs von Balsora)
führte uns selber in seinen Palast, und dachte nicht weiter an das Vergnügen
der Fischerei, auf welches er ausgegangen war. Man führte uns in prächtige
Zimmer, wo man nicht säumte, uns ein köstliches Abendessen aufzutragen. Der
Prinz erwies meiner Gefährtin alle möglichen Aufmerksamkeiten. Unterdessen war
man darauf bedacht, mir fleißig zu trinken einzuschenken. Ich hatte die
Unvorsichtigkeit, es ohne Zurückhaltung anzunehmen, und bald fiel ich in den
tiefsten Schlaf.

Als ich am anderen Morgen erwachte, war ich sehr
verwundert, mich wieder am Ufer des Sees zu befinden, wo ich am vorigen Tag mich
ausgeruht hatte. Ich wähnte, man hätte mir diesen Streich gespielt, um sich
einen Spaß zu machen, und ich näherte mich wieder dem Palast.

Ich klopfte, ein Mann erschien, und fragt, was ich will.
„Ich will,“ antwortete ich ihm, „eine Frau, die gestern in diesem
Palast gegangen ist.“

„Ihr täuscht Euch, mein Freund,“ versetzte
jener, indem er mir die Türe vor der Nase zuschlug, „es ist keine Frau an
diesem Ort.“

Ich klopfte noch stärker, und er öffnete von neuem.

„Aber erkennt ihr mich denn nicht?“, sagte ich
zu ihm, „ich bin ja derjenige, der gestern eine Frau hier herein gebracht
hat.“

„Geht, ihr spaßt,“ versetzte er, „ich
wiederhole Euch, dass keine Frau hier herein gekommen ist, und ich rate Euch,
klüglich Euren Weg fortzusetzen, wenn Euch nicht etwas Unangenehmes begegnen
soll.“

Alles dies schien mir so außerordentlich, dass ich einige
Zeit wähnte, geträumt zu haben, aber indem ich dagegen die Umstände in mein
Gedächtnis zurückrief, welche unserm Eintritt in den Palast vorausgegangen
waren, erkannte ich wohl, dass ich wach wäre, und klopfte mit starken Schlägen
zum dritten Mal an.