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770. Nacht

„Der Arme, der eine schöne, tugendhafte und
liebenswürdige Frau besitzt, ist ebenso glücklich, wie ein König.

Hast Du eine solche Frau gefunden, so bist Du über allen
Kummer des Lebens erhaben, denn sie vermag, Dich über alles zu trösten.

Ihr Anblick genügt, um die Traurigkeit Deines Herzens zu
zerstreuen, und Dir das Bild des Paradieses darzubieten.“

Aber ach! Wie sollte sich bald alles für mich verändern!
Unsere alte Mutter starb, und ich erwies ihrem Staub die letzte Ehre. Seitdem
ging eine plötzliche Veränderung in der Gemütsstimmung meiner Gattin vor:
Sie, die meine Traurigkeit zerstreute und deren Anblick mein Herz erfreute,
wurde auf einmal mürrisch und traurig. Der Aufenthalt auf dem Land schien ihr
unerträglich. Sie fand die Luft ungesund, kurz, sie brachte es dahin, dass ich,
ihr zu Gefallen, mich gezwungen sah, nach der Stadt zurückzukehren, und dort
die Bekanntschaft mit meinen alten Freunden und Bekannten wieder anzuknüpfen,
welche ich verlassen hatte, um in der Einsamkeit zu leben.

Ich mietete ein Haus in einem abgelegenen Stadtviertel,
gab meiner Frau eine alte Dienerin, das Hauswesen zu besorgen, und nachdem ich
so meine häuslichen Einrichtungen gemacht, beschäftigte ich mich mit der
Verwaltung der Landgüter, welche wir verlassen hatten, zu welchem Zweck ich
häufig abwesend war.

Eines Tages, als ich mich zu einer solchen Reise
anschickte, sah ich die Alte, welche ich in Dienst genommen hatte, zu mir
herantreten: „Herr,“ sprach sie zu mir, „mein Alter erlaubt mir
nicht mehr, genau alles zu verrichten, was die Besorgung Eures Hauswesens mir
auferlegt. Ich komme also, Euch zu bitten, mir erlauben zu wollen, dass ich Euch
verlasse. – Auch bin ich,“ setzte sie hinzu, „zu wenig vertraut mit
den Intrigen des Stadtlebens, und ganz und gar nicht geschickt zu Verrichtungen
gewisser Art.“

Ich begriff nicht, was die Alte mir zu verstehen geben
wollte, und da ich ihre Worte buchstäblich nahm, gab ich ihr den Abschied, ohne
zu ahnen, welche Beschimpfung meine Frau mir antat, so weit war ich entfernt,
sie eines solchen Verbrechens fähig zu halten.

Als die Alte sah, dass ich ihren Worten keine
Aufmerksamkeit geschenkt hatte, da hielt sie es für ihre Pflicht, sich
deutlicher auszudrücken, und eines Tages, als ich wieder im Begriff stand, aufs
Land zu reisen, kam sie und sprach zu mir:

„Ach Herr, ihr treibt das Zutrauen bis zur Torheit:
Wie könnt ihr nicht wissen, was bei Euch vorgeht, und nicht besser gegen
Frauenlist auf Eurer Hut sein?“

Diese Worte der Alten hätten mich bald um den Verstand
gebracht und versetzten mich in den heftigsten Zorn: „Erkläre Dich,“
sprach ich zu ihr, „und lass mich nicht länger in der grausamen
Ungewissheit, in welche Deine Worte mich stürzen.“

„Ihr seid noch jung, Herr,“ fuhr die Alte fort,
„und müsst vorsichtig zu Werke gehen. Ich wollte durch diese Worte Euch
nur veranlassen, auf Eurer Hut zu sein, aber ich habe mir nicht erlaubt, jemand
anzuklagen: Möchte nur die Weisung, welche mein Alter mich berechtigt, Euch zu
geben, Euch bestimmen, in Zukunft umsichtiger zu sein.“

Mit diesen Worten verließ sie mich, mehr tot als
lebendig.