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769. Nacht

Bei Sonnenuntergang sah ich die Alte einen Teppich
ausbreiten, um ihr Gebet zu verrichten, und ihre Gewissenhaftigkeit in
Erfüllung ihrer Religionspflichten bestärkte mich nur noch mehr in der guten
Meinung, welche sie mir eingeflößt hatte.

Kaum hatte der Mond die Stelle der Leuchte des Tages
eingenommen, als unser Aufenthalt durch ein junges, mit Anmut und Reizen
geschmücktes Mädchen verschönt wurde: Ihre Augen strahlten wie die Sterne.
Die frische Rose hätte die Röte ihrer Wangen beneidet. An ihrer Stirn, voll
Bescheidenheit und Reinheit, malten sich zierlich zwei Bögen der Augenbrauen.
Ihre Ankunft durchströmte die Luft mit einem köstlichen Wohlgeruch. Sie
brachte mit sich ein Geisterfräulein, deren Schönheit den schlanksten und
zierlichsten Gazellen den Rang streitig machte. Die Alte ging ihr entgegen zum
Empfang, küsste sie auf die Stirn und bat sie, uns einige ländliche Speisen
vorzusetzen.

Sogleich ging das Mädchen hin und melkte die Kuh, sodann
kam sie zurück, und brachte uns Milch und Früchte, welche sie mit uns aß.

Ich konnte ein so reizendes Geschöpf nicht sehen, ohne
einen tiefen Eindruck und den Wunsch zu empfinden, dass sie denselben mit mir
teilen möchte. Ich verdoppelte von nun an meine Aufmerksamkeit für die Alte,
und die Abwesenheit meiner Geliebten benutzend, wartete ich am folgenden Morgen
den Augenblick ab, wo die Alte ihr Gebet geendigt hatte, um ohne Umschweif mit
ihr zu reden.

„Wie viel Dank bin ich Euch schuldig, meine gute
Mutter,“ sprach ich zu ihr, „für die wohlwollende Gastfreundschaft,
welche ihr mir bewiesen habt! Verloren in der Mitte jener furchtbaren Wildnis,
habe ich plötzlich an Euch eine unerwartete Hilfe gefunden. Würde es nun wohl
diese Gastfreundschaft missbrauchen heißen, wenn ich Euch fragte, wer das junge
Mädchen ist, welche ich gestern hier gesehen habe?“

„Mein Sohn,“ antwortete mir die Alte,
„dankt mir nicht dafür, dass ich meine Pflicht getan habe: Indem ich mich
von der Welt zurück zog, um in dem Schoß der Einsamkeit dem Dienst Gottes zu
leben, wurde es meine Pflicht, mich dem Dienst der Unglücklichen zu widmen, und
ich setzte mir vor, dem Unglück überall beizuspringen, wo ich es anträfe. Ich
habe mich dabei sorgfältig mit der Erziehung meiner Enkelin beschäftigt,
welche ihr hier bei mir seht. Ihr Vater und ihre Mutter sind gestorben, als sie
noch sehr jung war, und ich habe sie bestimmt, die vergängliche Welt zu
fliehen, um sich mit ihrem ewigen Heil zu beschäftigen.“

„Meine gute Mutter,“ antwortete ich, „Euer
Beispiel macht auf mein Gemüt einen solchen Eindruck, dass ich Euch auch
nachfolgen, die verderbte Welt fliehen, und mich von meinen Verwandten und
Freunden trennen will, um mich ganz mit Euch in dieser Einsamkeit dem Dienst
Gottes zu weihen; aber zugleich spreche ich Euch um eine Belohnung dafür an.
Eure Enkelin ist noch jung, vertraut sie mir an und vereinigt uns, wir wollen
beide bei Euch bleiben, um Euch zur Stütze in Euren hohen Jahren zu dienen, und
Euch alle uns nur mögliche Dienste zu leisten, um Eure geringsten Wünsche zu
erfüllen. Ich hoffe, ihr werdet Durch die Gewährung meiner Bitte mir einen
neuen Beweis des Wohlwollens geben, welches ihr mir schon bezeigt habt, und
zugleich völlig den Willen des Himmels erfüllen, welcher mich ausdrücklich
deshalb in dieses Haus geführt zu haben scheint.“

Die Alte gab meinen dringenden Bitten nach, und ich
gelangte in den Besitz meiner Geliebten. Alles schien in den ersten Tagen meiner
Vermählung mich mit dem verhofften Glück zu überschütten. Meine Gattin, so
schön wie die Huris, war ein Muster der Sittsamkeit und Zurückgezogenheit. Das
Licht des Mondes selbst erschreckte sie, und sie hatte noch nicht gewagt, die
Augen zu mir aufzuheben: So strenge waren die Grundsätze, in welchen ihre
Großmutter sie erzogen hatte. Ich war auf dem Gipfel des Glücks, und ich
hätte keinen Augenblick meines Zusammenseins mit ihr hingegeben, und wenn man
mir auch die ganze Welt geboten hätte. Und ihr könnt Euch wohl denken, Herr,
wie groß meine Glückseligkeit war, als ich mich mit einer reizenden Gattin
vereinigt sah, welche nicht minder sittsam als anmutig war. Auch erinnerte ich
mich oft folgender wahrer Sprüche: