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768. Nacht

„Herr,“ antwortete der Kalender, „wie groß
auch die Härte des Schicksals gegen Euch gewesen sein mag, doch kann es Euch
schwerlich mehr misshandelt haben, als mich, und ich trage in meinem Antlitz das
unvertilgbare Andenken eines der schmerzlichsten Unglücksfälle.“

Bei diesen Worten machte er Selim auf die Narbe einer
tiefen Wunde an seiner rechten Wange aufmerksam.

„Diese Wunde,“ fuhr er fort, „wird mir
immerdar den schmerzlichsten Augenblick meines Lebens zurückrufen und da meine
Geschichte mit dazu dienen kann, Euren Schmerz zu lindern, so will ich sie Euch
gern erzählen.“

Und nun begann der Kalender, auf Bitte des Prinzen,
folgendermaßen:

Geschichte des Kalenders mit der
Schmarre

„Ihr müsst wissen, Herr, dass ich, bevor ich den
Kalender-Stand ergriff, Offizier im Kriegsheer war. Eines Tages unternahm ich
mit mehreren meiner Genossen eine Jagd. Wir stiegen zu Pferde, und kaum betraten
wir den Wald, als ein gewaltiger Hirsch, dessen Ruhe seine Kühnheit
verkündigte, plötzlich vor unsern Augen erschien. Alsbald stürzte jeder auf
ihn los, und der Hirsch begab sich auf die Flucht vor uns hin.

In der Hitze der Jagd trennte ich mich von meinen
Gefährten, und da ich die Wege des Waldes, worin wir jagten, nicht kannte, so
verirrte ich mich bald. Die Hitze war unleidlich. Mein hitziges und von Mut
gesporntes Ross konnte sich nicht zurückhalten, es rannte mit wunderbarer
Schnelligkeit dahin, und unter seinen Hufschlägen stoben tausend Funken aus dem
Boden, gleich den Sternen des Firmaments. Aber endlich stolperte es über einen
losen Kieselstein, und stürzte nieder. Ich fiel so schwer zu Boden und war von
meinem Fall so betäubt, dass mehrere Stunden vergingen, bevor ich wieder zur
Besinnung kam.

Endlich erholte ich mich, und als ich versuchte, mich
aufzurichten, sah ich ein altes abgelebtes Weib sich nahen, deren Wangen
gefurcht waren, wie das vom Westwind bestrichene Wasser, sie stützte ihren
wankenden Gang auf einen kleinen Stock, und kam mit langsamen Schritten auf mich
zu.

Die Annäherung der Nacht, das Grauen der Wildnis, ein
dumpfes Getöse, welches sich in der Ferne hören ließ, die Betäubung von
meinem Fall, und die plötzliche Erscheinung und der seltsame Anblick dieses
Weibes machten mich zittern, wie ein Espenblatt. Ich hielt sie für einen bösen
Geist, der sich meiner bemächtigen wollte. Voll von dieser Vorstellung, redete
ich sie mit bittenden Worten an, und sagte ihr alles, was ich nur Angenehmes und
Schmeichelhaftes erdenken konnte.

Die Alte bemerkte die Verwirrung, in welche ihre Gegenwart
mich versetzt hatte, und bemühte sich, durch ihr freundliches Bezeigen meine
Furcht zu zerstreuen. Sie fragte mich, wie es zuging, dass ich mich so an diesem
öden Ort befände. Ich erzählte ihr mit wenigen Worten, was mir begegnet war,
und machte ihr meine Lage bekannt. Sie erbot mir ihre Hilfe, und ich, in der
äußersten Verlegenheit, worin die Flucht meines Pferdes mich versetzt hatte,
nahm diese schwache Stütze an.

Hierauf fasste die Alte mich bei der Hand, führte mich
dreist mitten durch das Dickicht des Waldes, und brachte mich auf tausend
Umwegen aus dieser Wildnis.

Auf einmal erblickte ich nun mit Verwunderung ein
anmutiges Landhaus am Ufer eines hellen Stromes. Dieses Haus war von reizenden
Gärten umgeben, welche von zahllosen glänzenden Vögeln bewohnt und von
kleinen Bächen erfrischt waren, welche ein ewiges Grün darin erhielten.

Wir betraten diese Wohnung, wo mir die gastfreundliche
Aufmerksamkeit erzeigt wurde. Man sparte nichts, was meinem Geschmack und meinen
Sinnen schmeicheln konnte. Alles an diesem Ort zeigte von überfluss und
Reichtum.

„Ich bitte Euch um Entschuldigung, Herr,“ sprach
die Alte zu mir, „dass ich Euch in einer Euer so wenig würdigen Hütte
empfange. Aber Eure Gegenwart ehrt sie, und ich schmeichle mir, dass die
Herzlichkeit unserer Aufnahme Euch einige Tage in dieser Einsamkeit
zurückhalten wird.“

Ich dankte Gott, dass er mich so schleunig aus einer öden
Wildnis an einen so reizenden Ort versetzt hatte, wo ich der Gegenstand des
Zuvorkommens und der zartesten Aufmerksamkeit von Seiten einer Frau war, welche
mir von Edelmut und Güte beseelt schien. Ich nahm mir vor, einige Zeit in
diesem lachenden Gefilde zu verweilen, wo alles sich zu meiner Bezauberung zu
vereinigen schien.