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742. Nacht

„Wir sind am Ziel unserer Reise!“, sprach er und
legte den Prinzen und die Prinzessin auf die Erde nieder. Hierauf, als Benasir
ihn fragte, ob sie schon dem persischen Hof recht nahe wären, sprach er etliche
geheimnisvolle Worte aus: Die Erde öffnete sich sogleich, und er sagte zu dem
Prinzen, indem er ihn unsanft beim Arm nahm:

„Vorwärts! Ich werde nachher auf Deine Fragen
antworten.“

Sie stiegen nun alle drei auf einer Treppe in einen
unabsehlichen Gang hinab, und die Erde schloss sich von selber über ihnen
wieder zu.

Schon der Anblick dieses Orts hatte die junge Prinzessin
mit Grausen erfüllt. Ihr Entsetzen aber war noch weit größer, als der Geist
sie bei der Hand fasste und ihr gebieterisch befahl, ihm zu folgen. Da stieß
sie einen Schrei des Entsetzens aus, warf sich dem Geist zu Füßen und beschwor
ihn, sie nicht von ihrem Bruder zu trennen; aber ihre Bitten und Tränen waren
ebenso fruchtlos als die Drohungen Benasirs. Dieser sah sich so schleunig von
seiner Geliebten getrennt, dass er keinen Widerstand zu leisten vermochte.

Der Geist kam bald wieder und gebot ihm zu folgen.
Benasir, der nicht imstande war, sich ihm zu widersetzen, ergab sich in sein
Schicksal und gehorchte. Er wurde durch mehrere unterirdische Gänge in ein
weites Gemach geführt, in welchem sie einen abgelebten und ekelhaften Greis
fanden.

„Benasir,“ sprach nun der Geist zu dem Prinzen,
„hier ist Deine Wohnung. Füge Dich in Dein Schicksal, wenn Du Dir mein
Wohlwollen erwerben willst: Der Greis, welchen Du hier siehst, ist mein Vater,
es ist fortan Dein Geschäft, ihn zu bedienen. Entledige Dich Deiner
Verrichtungen, wie es sich gebührt, denn wenn er sich jemals über Dich
beklagen sollte, so sollst Du Dich über mich zu beklagen haben.“

Mit diesen Worten und ohne darauf zu hören, was der Prinz
ihm antworten wollte, verschloss er die Türe und verschwand.

Als Benasir sich für immer von der Prinzessin getrennt,
zum Sklaven erniedrigt und zu den widerwärtigsten Verrichtungen gezwungen sah,
bemächtigte die Verzweiflung sich seiner, und er rief dem Tod mit dem
heißesten Wunsch.

Die Prinzessin von China war unterdessen, obwohl in einer
viel weniger unangenehmen Lage als die ihres Bruders, doch von nicht minder
lebhaftem Schmerz durchdrungen. Der Geist hatte sie in prächtige Zimmer
geführt, wo sie alles hatte, was sie wünschen konnte, ausgenommen die
Freiheit. Als sie ihn aber um Auskunft über das Schicksal des Prinzessin bat,
antwortete er ihr:

„Prinzessin, Ihr seid Herrin in diesem Palast, Ihr
habt zu gebieten, und man wird Euch gehorchen. Aber ich fordere nur eines von
Euch, nämlich, niemals von demjenigen zu sprechen, für den Ihr eine Liebe
nährt, über welche Ihr erröten solltet.“

Die Prinzessin verstand wohl den Sinn dieser Worte des
Geistes, aber sie war klug genug, den Schmerz und Unwillen, welchen die Rede ihr
verursachte, in ihrem Herzen zu verschließen; und um denjenigen nichts merken
zu lassen, welchen die Treulosigkeit zu ihrem Herrn gemacht hatte, verstellte
sie sich, tat, als wenn sie mit ihrem Schicksal zufrieden wäre, und antwortete:

„Ihr beschuldigt mich mit Unrecht, Herr, wenn Ihr
voraussetzt, dass mein Bruder Benasir mir andere Empfindungen eingeflößt hat,
als wie eine Schwester sie gegen einen Bruder hegen soll. Ich habe Vertrauen
genug zu Eurer Seelengröße und Eurem Edelmut, um versichert zu sein, dass Ihr
in seiner Rücksicht die Pflichten der Gastfreundschaft, die Ihr ihm versprochen
habt, nicht verletzen werdet: Und weil Euch sein Name missfällt, so könnt Ihr
gewiss sein, dass er fortan nicht mehr über meine Lippen kommen wird. Ich bin
Euch Dank schuldig für die Art, wie Ihr mich behandelt, und ich werde mich
bemühen, alles zu tun, was Euch wohl gefallen kann.“

Diese Worte machten auf den Geist den günstigsten
Eindruck. Er lächelte so freundlich, als ihm irgend möglich war, und nahm
Abschied von der Prinzessin.