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739. Nacht

Der Unbekannte beschäftigte sich sogleich mit den
Mitteln, die Niederkunft der Königin zu erleichtern, und seine Bemühungen
waren von solchem Erfolg, dass sie einen Sohn gebar, schön wie der Tag, und
welchem man den Namen Benasir gab.

Der Unbekannte entzog sich den Danksagungen und
Glückwünschungen, welche man ihm von allen Seiten machte, und sagte nur noch
dem König, er würde nicht verfehlen, nach achtzehn Jahren wiederzukommen und
die Erfüllung der gegen ihn eingegangenen Verpflichtung zu fordern. Der König
nahm sich aber schon vor, das getane Versprechen keineswegs zu halten.

Man gab dem jungen Prinzen die glänzendste Erziehung
durch Lehrmeister aller Art, und nichts wurde zu seiner vollkommenen Ausbildung
versäumt. Aber schon als er anfing, aus der Kindheit zu treten, wurde die
Unruhe des Königs und der Königin sehr lebhaft, und beide berieten sich über
die Mittel, das gegebene Versprechen zu umgehen. Zu diesem Zweck heilten sie es
für wohlgetan, den jungen Prinzen von dem Hofe zu entfernen und ihn zu einem
benachbarten König zu senden, damit sein Aufenthalt verborgen wäre, wenn der
Unbekannte käme, ihn abzufordern.

Der König von Persien schickte also seinen jungen Sohn,
bevor er noch das siebente Jahr erreicht hatte, in die Staaten des Kaisers von
China, welcher ihn mit allen Beweisen einer aufrichtigen Zuneigung aufnahm.
Benasir wurde in dessen Palast wie die eigenen Söhne des Kaisers behandelt, und
dieser benahm sich so, um alle Welt zu überreden, dass der König von Persien
ihm nur einen Sohn zurückgesendet, welchen er ihm während seiner Kindheit
anvertraut hätte. Der junge Benasir selber war durch dieses Märchen
getäuscht, welches man ersonnen hatte, um sein Dasein desto sicherer vor
denjenigen zu verbergen, welchen daran gelegen war, es zu entdecken.

In demselben Palast und in geschwisterlicher
Vertraulichkeit mit ihm lebte eine junge Prinzessin, die Tochter des Kaisers von
China, deren Schönheit so groß war, dass selbst der Pinsel Manis nimmer ihre
Vollkommenheit zu erreichen vermocht hätte.

Der junge Prinz empfand für seine vermeintliche Schwester
eine Zuneigung, welche mit den Jahren nur wuchs. Aber er bemühte sich, eine
Leidenschaft zu unterdrücken, welche er für verdammlich hielt. Als er zu dem
Alter der Besinnung gekommen war, gewann seine Liebe neue Stärke, und da er
nicht länger seine Empfindungen beherrschen konnte, so eilte er hin, bekannte
sie dem König, seinem Vater, und beschwor ihn, ihn vom Hofe zu entfernen, damit
die Abwesenheit die unselige Leidenschaft heilte, welche seine Vernunft nicht zu
besiegen vermöchte.

Benasir war sehr verwundert, als er den Kaiser von China
nicht so über sein Geständnis erzürnt sah, wie er geglaubt hatte. Der Kaiser
sah mit Vergnügen einen so ausgezeichneten Prinzen wie den Sohn des Königs von
Persien um die Hand seiner Tochter werben und setzte sich vor, beide zu
vereinigen. Er antwortete ihm also:

„Mein Sohn, die Liebe, welche Du zu Deiner Schwester
gefasst hast, ist eine Eingebung Gottes, dessen Ratschlüsse zu durchdringen uns
unmöglich ist. Lass uns alles von der Vorsehung hoffen: Ich bin überzeugt, er
wird Euch fortan nur Empfindungen einflößen, welche Euer würdig sind.
Anlangend die Erlaubnis, um welche Du mich bittest, Dich vom Hofe zu entfernen,
so verhindern mich Ursachen, welche ich Dir erst nach Vollendung Deines
achtzehnten Jahres sagen kann, sie Dir zu bewilligen. Begib dich wieder zu den
Prinzen, Deinen Brüdern, und tu alles, was an Dir ist, die Empfindungen zu
mäßigen, welche Deine Schwester in Dir erregt hat.“

Benasir konnte die Sorglosigkeit nicht begreifen, mit
welcher der Kaiser von China eine so wichtige Entdeckung zu betrachten schien,
und gab sich alle Mühe, seine Leidenschaft in Zaum zu halten. Aber die
Gelegenheiten, die Prinzessin zu sehen, boten sich so häufig dar, dass er bald
der Fruchtlosigkeit seiner Anstrengungen inne ward.

Eines Tages, als er sich mit ihr allein befand, sprach er
zu ihr: „Ich weiß nicht, wie ich ausdrücken soll, was ich empfinde: Aber
ich bedaure, dass Du meine Schwester bist, denn ich würde auf dem Gipfel der
Freude sein, wenn ich Dich zur Gattin haben könnte.“