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717. Nacht

Während diese Begebenheiten sich zutrugen, ging daheim
die Königin Mutter voll Verzweiflung, keine Nachricht, weder von Chansad noch
von Aischah, zu erhalten, mit starken Schritten dem Grab entgegen. Als sie
endlich fühlte, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hätte, ließ sie ihren
jüngeren Sohn Murad kommen, welcher damals sechzehn Jahre alt war, und nachdem
sie ihn mit Tränen in den Augen umarmt hatte, vertraute sie ihm die Geschichte
ihres Hauses, empfahl ihm, sie sorgfältig zu bewahren und einst dem Beispiel
seiner Ahnen zu folgen. Sie befahl hierauf dem Großwesir, die vornehmsten
Herren des Hofes in dem großen Saal des Palastes zu versammeln, in welchen die
sterbende Königin sich nun selber tragen ließ.

Als alle um ihr Bett versammelt waren, erinnerte sie sie
an die Wohltaten, welche sie von ihrem Stamm empfangen hätten, machte ihnen
bemerkbar, wie undankbar sie sein würden, wenn sie den letzten Sprössling
desselben verließen, und forderte von ihnen den Eid einer unverletzlichen
Treue.

Der Wesir fasste hierauf Murads Hand, ließ ihn den Thron
besteigen und krönte ihn. Zwei Tage danach bezahlte die Königin Mutter ihre
Schuld der Natur.

Der neue Sultan war mit einem überlegenen Geist und einer
Besonnenheit begabt, welche sich selten in einem so zarten Alter finden, und
benahm sich mit großer Klugheit. Wohl fühlend, dass es ihm noch an Erfahrung
fehlte, um ein Reich zu regieren, überließ er die Besorgung der Geschäfte
völlig dem Großwesir, auf den er sich verlassen konnte, und widmete sich ganz
den Wissenschaften und übungen, welche zur Bildung eines Königs gehören.

Sein erster Lehrmeister war ein alter Verschnittener,
welchen seine Mutter ihm gegeben und der viel gereist hatte. Dieser unterheilt
den jungen Fürsten oft von den Gebräuchen der verschiedenen Völker, bei
welchen er sich aufgehalten, und was er Merkwürdiges dort gesehen hatte.

Unvermerkt bekam Murad selber Lust zum Reisen, und das
Schicksal seines Bruders und seiner Schwester, welches sich vor seine Seele
stellte, bestimmte ihn bald zu dem Entschluss, die Welt zu durchziehen und alle
seine Kräfte aufzubieten, um sie wieder zu finden. „Wenn das Schicksal mich
begünstigt,“ dachte er, „so entdecke ich den Ort, wo sie sind: Ist es
mir entgegen, so gehe ich unter wie sie.“

Er machte demzufolge alle Anstalten zu seiner Abreise,
nahm eine volle Geldbörse und viele Diamanten mit, welche er im nächsten Hafen
zu vertauschen gedachte, um Waren dafür zu kaufen, ein Schiff damit zu
befrachten und so nach Indien zu fahren.

Ohne jemand seinen gefassten Vorsatz mitzuteilen, und
bloß mit Hinterlassung eines Briefes an seinen Großwesir, worin er ihm die
Verwaltung des Reichs während seiner Abwesenheit auftrug, reiste Murad zu Pferd
mitten in der Nacht ab und nahm seinen Weg nach einem Seehafen, welcher nur zwei
Tagereisen von der Hauptstadt entfernt lag.

Gleich bei seiner Ankunft fand er hier ein Schiff, welches
nach der Insel Serendyb segelte, von welcher sein alter Verschnittener ihm viel
erzählt hatte. Bald war er mit dem Schiffshauptmann wegen der überfahrt einig
und schiffte sich ein.

Die Fahrt war sechzehn Tage lang glücklich, aber am
siebzehnten mit Sonnenuntergang bedeckte der Himmel sich mit Wolken, der bisher
immer günstige Wind wurde widrig und blies mit solcher Wut, dass das
aufgerührte Meer überall furchtbare Abgründe darbot, von welchen er jeden
Augenblick verschlungen zu werden fürchtete. Dieser Sturm dauerte mehrere Tage.
Endlich legte sich der Wind, aber das Schiff hatte dermaßen gelitten, dass es
nicht mehr zu steuern war, und die Mannschaft hatte kaum noch Hoffnung, sich zu
retten, als man Land erblickte.