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712. Nacht

Als der Prinz Chansad dem König, seinem Vater, die seinem
Rang gebührende Ehre erwiesen hatte, bestieg er den Thron, und nachdem er mit
ebensoviel Wohlwollen und Leutseligkeit die Huldigungen der Großen und der
Wesire empfangen, beschäftigte er sich mit den schwierigen Verrichtungen der
Regierung und erwarb sich durch sein Betragen bald die Segnungen seiner
Untertanen.

So regierte er in Frieden einige Zeit lang, als man eines
Tages ihm meldete, dass ein Fremder an den Toren des Palastes stände und
Einlass begehrte. Er befahl, ihn hereinzuführen.

Dieser Mensch hatte etwas Wildes an sich und ein
zurückstoßendes äußeres. Er näherte sich indessen dem König ohne irgend
ein Zeichen der Furcht, und als er vor ihm stand, sprach er zu ihm:

„Herr, möge Gott Euer Majestät lange Jahre
verleihen, und vor allen möge er verhüten, dass Ihr durch meine Bitte um die
Hand Eurer Schwester Aischah, welche ich zu tun komme, nicht beleidigt
werdet.“

Die erste Bewegung des Sultans war, die Unverschämtheit
des Fremden bestrafen zu lassen, der es gewagt hatte, also zu ihm zu sprechen,
aber alsbald erinnerte er sich seines dem König, seinem Vater, gegebenen
Versprechens, er war also genötigt, an sich zu halten, und ohne dem Fremdling
eine bestimmte Antwort zu geben, befahl er zum großen Erstaunen der Hofleute,
ihm im Palast eine Wohnung zu bereiten. Hierauf begab er sich nach den Zimmern
der Königin, seiner Mutter, um sich mit ihr zu beraten, welchen Entschluss er
fassen sollte.

Als der König Chansad der Königin mitgeteilt hatte, was
eben vorgegangen war, wurde diese Fürstin innig betrübt, und beide
überlegten, welche Mittel in solchem Unfall anzuwenden wären. Aber sie konnten
keinen Ausweg finden, das geheiligte Versprechen zu umgehen, welches sie am
Totenbett des letzten Sultans abgelegt hatten, und sie beschlossen damit, dass
sie hin sandten und dem Fremdling ankündigen ließen, er möchte sich bereiten,
die Hand der Prinzessin zu empfangen.

Das Erstaunen am Hof stieg aufs höchste, als man vernahm,
dass die Prinzessin Aischah die Gemahlin eines armen Unbekannten werden sollte,
und niemand konnte ein so seltsames Abenteuer begreifen.

Die Hochzeit wurde ohne Pracht in den inneren Zimmern des
Palastes gefeiert und war vielmehr ein Gegenstand der Trauer als der Freude für
die ganze Familie. Die Prinzessin vor allem, welche mit Ergebung dem Willen
ihres Vaters gehorcht hatte, konnte sich nicht enthalten, bitterlich zu weinen,
als ihr neuer Gemahl ihr andeutete, so wie er als solcher dazu berechtigt war,
dass sie sich bereiten müsste, ihre Familie zu verlassen und ihm zu folgen. Um
ihren Schmerz zu besänftigen, versprach er ihr nur, zu erlauben, dass sie ihre
Verwandten, welche sie so ungern verließ, jedes Jahr zu besuchen und drei
Wochen bei ihnen zubringen könnte.

Trotz dieses Versprechungen ihres Mannes war schon ein
Jahr seit der Abreise der Prinzessin Aischah verflossen, und nichts kündigte
noch ihre Heimkehr an. Die Besorgnisse ihrer Familie wurden immer lebhafter. Der
Sultan sandte nun nach allen Seiten Leute aus, seine Schwester zu suchen, und
verhieß demjenigen glänzende Belohnungen, der den Ort ihres Aufenthalts
entdecken würde. Jedes Jahr erneuerte er seine Nachforschungen und
Verheißungen. Alles war aber fruchtlos, er konnte durchaus keine Kunde von ihr
erlangen.