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711. Nacht

Geschichte der beiden Prinzen von Cochinchina und ihrer
Schwester

„Herr, es herrschte einst in Cochinchina ein König,
welcher der gelehrteste Mann seiner Staaten war. Als der Augenblick kam, wo er
sein Haupt auf das Sterbekissen legen sollte, ließ er die Königin, seine
Gemahlin, seine Tochter und seine beiden Söhne rufen. Nachdem er sie hatte
geloben lassen, genau seinen letzten Willen zu befolgen, sprach er
folgendermaßen zu ihnen:

„Ich beschwöre Euch im Namen des großen Gottes, der
über die Throne gebietet, und dem ich denjenigen verdanke, welchen ich jetzt
bald verlassen werde, mit Aufmerksamkeit anzuhören und getreulich zu erfüllen,
was ein sterbender Vater Euch heute empfiehlt.“

Seine Gemahlin und seine Kinder beeiferten sich, unter
Strömen von Tränen ihm zu versprechen, dass sie mit der gewissenhaftesten
Genauigkeit seinen letzten Willen erfüllen würden, und er fuhr nun fort, indem
er sich zu Chansad, seinem ältesten Sohn wandte:

„Deine Geburt, mein Sohn, gibt Dir das Recht auf die
Krone. Vergiss aber nicht, dass ihr schönster Glanz die Menschlichkeit ist.
Durch diese wirst Du die Dauer Deines Reichs und Deine eigene Glückseligkeit
sichern, zumal, wenn Du mit dieser Tugend die kindliche Liebe gegen Deine Mutter
und eine zärtliche Anhänglichkeit an Deinen Bruder Murad verbindest, welcher
in seiner Kindheit noch bedarf, dass Du meine Stelle bei ihm vertretest. Was
Deine Schwester Aischah betrifft, so habe ich Dir noch Weisungen zu geben,
welche Dir vielleicht seltsam vorkommen werden, aber ich setze so großes
Vertrauen in Dein mir getanes Versprechen, dass ich glaube, Du wirst nicht
anstehen, sie zu befolgen. Ich will – und betrachte Du die jetzt aus meinem Mund
gehenden Worte wie Aussprüche des Schicksals -, ich will also, dass ihre Hand
dem ersten Fremdling gehöre, welcher sich darbietet, wo er auch her und von
welchem Stand und Vermögen er auch sei.“

Die ganze Familie des alten Königs warf sich zu seinen
Füßen, und während alle ihr eben abgelegtes Versprechen wiederholten, tat er
einen tiefen Seufzer und verschied.