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71. Nacht

Dinarsade wünschte leidenschaftlich, Amines Geschichte zu
hören und deshalb erwachte sie sehr früh und beschwor die Sultanin, ihr zu
erzählen, warum der Busen der liebenswürdigen Amine ganz mit Narben bedeckt
sei. „Ich bin bereit,“ erwiderte Scheherasade, „und um keine Zeit
zu verlieren, sollst du wissen, dass Amine, sich an den Kalifen wendend, ihre
Geschichte, wie folgt, begann:

Geschichte
Amines

„Beherrscher der Gläubigen,“ sagte sie,
„um nicht Dinge zu wiederholen, von welchen Euer Majestät schon durch die
Erzählung meiner Schwester unterrichtet ist, sag‘ ich euch nur, dass meine
Mutter, nachdem sie ein Haus gemietet hatte, um in ihrem Witwenstand für sich
zu leben, mich einem der reichsten Erben dieser Stadt zur Frau gab.

Das erste Jahr unserer Ehe war noch nicht verflossen, als
ich Witwe wurde, und zum Besitz des ganzen Vermögens meines Gatten kam, welches
sich auf achtzigtausend Zeckinen belief. Die bloßen Zinsen dieser Summe
reichten übrigens zu meinem sehr anständigen Lebensunterhalt vollkommen hin.
Ich hatte mir jedoch, sobald die ersten sechs Monate meiner Trauer um waren,
zehn verschiedene Anzüge von so großer Pracht machen lassen, dass jeder auf
zehntausend Zeckinen zu stehen kam, und ich fing an, sie am Ende des Jahres zu
tragen1).

Als ich eines Tages mit häuslichen Angelegenheiten
beschäftigt war, wurde mir gesagt, dass eine Frau mich zu sprechen verlange.
Ich befahl, sie vorzulassen. Es war eine schon sehr bejahrte Person. Sie
grüßte mich, indem sie die Erde küsste, und sagte zu mir, auf den Knien
bleibend: „Meine gute Frau, ich bitte euch, mir die Freiheit zu verzeihen,
die ich mir nehme, euch zu belästigen. Das Zutrauen, welches ich zu eurer
Menschenliebe habe, macht mich so dreist. Wisst, verehrte Frau, dass ich eine
vaterlose Tochter habe, die sich heute verheiraten soll, dass wir beide hier
fremd sind, und in dieser Stadt nicht die geringste Bekanntschaft haben. Das
setzt uns sehr in Verlegenheit, denn wir möchten gern der zahlreichen Familie,
mit welcher wir uns verbinden sollen, zeigen, dass wir keine Unbekannte sind,
und hier etwas gelten. Wenn ihr nun, meine gütige Frau, die Gefälligkeit haben
wolltet, diese Hochzeit mit eurer Gegenwart zu beehren, so würden wir euch um
so mehr verpflichtet sein, da die Frauen unseres Landes daraus folgern würden,
dass wir hier nicht als Elende angesehen sind, wenn sie erfahren, dass eine
Person von eurem Range es nicht verschmäht hätte, uns eine so große Ehre zu
erweisen. Aber ach! Wenn ihr unsere Bitte unerfüllt lasst, welche Kränkung
für uns! Wir wissen dann nicht, an wen wir uns wenden sollen.“

Diese Rede, bei welcher die arme Frau Tränen vergoss,
bewegte mich zum Mitleiden. „Meine teure Mutter,“ sagte ich zu ihr,
„betrübt euch nicht. Ich will euch gern die gewünschte Freude machen,
sagt mir nur, wohin ich kommen soll, und lasst mir Zeit, mich ein wenig festlich
zu kleiden.“ Die alte Frau war über diese Antwort vor Freuden außer sich,
und schneller, mir die Füße zu küssen, als ich, es abzuwehren. „Meine
liebreiche Frau,“ versetzte sie, als sie aufstand, „Gott wird euch
für die Güte belohnen, die ihr euren Dienerinnen erweist, und euer Herz ebenso
mit Freude erfüllen, wie ihr das unsrige damit erfüllt. Noch ist es nicht
nötig, dass ihr euch so bemüht. Es genügt, dass ihr gegen Abend zu der
Stunde, zu welcher ich euch abholen werde, mit mir kommt. Lebt wohl, verehrte
Frau,“ fügte sie hinzu, „auf die Ehre, euch wieder zu sehen.“

Sobald sie mich verlassen hatte, wählte ich dasjenige von
meinen Kleidern, das mir am meisten gefiel, mit einem Halsband von großen
Perlen, Armbändern, Ringen und Ohrgehängen von den schönsten und
glänzendsten Diamanten. Ich hatte eine Ahnung von dem, was mir begegnen sollte.

Es begann Nacht zu werden, als die alte Frau mit freudigem
Gesicht zu mir kam. Sie küsste mir die Hand und sagte zu mir: „Meine liebe
Frau, die Verwandten meines Schwiegersohnes, welche die ersten Damen der Stadt
sind, haben sich bereits versammelt. Beliebt’s euch, so kommt: ich bin bereit,
euch zu geleiten.“ Wir machten uns sogleich auf den Weg. Sie ging vor mir
her, und ich folgte ihr mit einer großen Anzahl mir angehöriger,
wohl gekleideter Sklavinnen. In einer sehr breiten, frisch gekehrten und
besprengten Straße hielten wir vor einer großen Türe an, die von einer
großen Laterne erleuchtet war, deren Licht mich über der Türe folgende aus
goldenen Buchstaben bestehende Inschrift lesen ließ: „Hier ist die ewige
Wohnung der Ergötzungen und der Freude.“ Die alte Frau klopfte an, und man
öffnete sogleich.

Man führte mich ans Ende des Hofes und in einen großen
Saal, in welchem ich von einer jungen, unvergleichlich schönen Dame empfangen
wurde. Sie kam mir entgegen, und nachdem sie mich umarmt und genötigt hatte,
mich auf ein Sofa zu setzen, wobei sich ein mit Diamanten besetzter Thron von
kostbarem Holz befand, sagte sie zu mir: „Verehrte Frau, man hat euch
hierher geladen, um einer Hochzeit beizuwohnen, aber ich hoffe, dass diese
Hochzeit eine andere sein wird, als ihr euch einbildet. Ich habe einen Bruder,
welcher der wohl gebildetste und vollkommenste aller Männer ist. Er ist von dem
Bild, das er von euren Reizen hat entwerfen hören, so entzückt, dass sein
Schicksal von euch abhängt, und dass er sehr unglücklich sein wird, wenn ihr
nicht Mitleid mit ihm habt. Er kennt den Rang, den ihr in der Welt behauptet,
und ich kann euch versichern, dass der seinige einer Verbindung mit euch nicht
unwürdig ist. Wenn meine Bitten etwas über euch vermögen, so füge ich sie zu
den seinigen, und bitte euch, sein anerbieten, euch zu seiner Gattin zu machen,
nicht zu verwerfen.“

Seit dem Tod meines Mannes hatte ich noch nicht daran
gedacht, mich wieder zu verheiraten, aber ich hatte nicht die Kraft, einer so
schönen Person eine abschlägige Antwort zu geben. Sobald ich durch ein
Stillschweigen und ein errötendes Gesicht in die Sache eingewilligt hatte,
klatschte die junge Dame mit den Händen, und sogleich öffnete sich ein
Kabinett, aus welchem ein junger Mann von so majestätischem und dabei so
anmutigem Aussehen trat, dass ich mich glücklich schätzte, eine so schöne
Eroberung gemacht zu haben. Er nahm neben mir Platz, und ich erkannte aus der
Unterhaltung, die wir miteinander hatten, dass seine Verdienste noch die
Schilderung übertrafen, welche mir seine Schwester davon gemacht hatte.

Als sie nun sah, dass wir miteinander zufrieden waren,
klatschte sie zum zweiten Mal mit den Händen, und es trat ein Kadi2)
ein, welcher unseren Heiratskontrakt aufsetzte, ihn unterzeichnete, und ihn auch
von vier Zeugen, die er mitbrachte, unterzeichnen ließ. Das Einzige, was mein
Mann von mir verlangte, war, dass ich mich nicht sehen lassen und mit keinem
Mann, außer ihm, sprechen sollte, und er schwur mir, dass ich, wenn ich diese
Bedingung erfüllte, alle Ursach‘ haben sollte, mit ihm zufrieden zu sein. So
wurde unsere Heirat beschlossen und vollzogen, und ich war die
Hauptschauspielerin bei der Hochzeit, zu welcher ich nur als Gast war eingeladen
worden.

Einen Monat nach unserer Verheiratung, als ich eben
einigen Stoff brauchte, bat ich meinen Mann um die Erlaubnis, ausgehen und den
Einkauf machen zu dürfen. Er gab dazu seine Einwilligung, und ich nahm zu
meiner Begleitung die alte zum Hause gehörige Frau, von welcher ich schon
gesprochen habe, und zwei meiner Sklavinnen mit. Als wir auf der Straße der
Kaufleute waren, sagte die alte Frau zu mir: „Meine teure Gebieterin, da
ihr einen seidenen Stoff sucht, so muss ich euch zu einem jungen Kaufmann
führen, den ich kenne. Er hat dergleichen von allen Gattungen, und ohne euch
damit zu ermüden, dass ihr von Laden zu Laden läuft, kann ich euch versichern,
dass ihr bei ihm finden werdet, was ihr nirgends anders findet.“ Ich ließ
mich führen, und wir traten in den Laden eines jungen, recht wohl gebildeten
Kaufmannes. Ich setzte mich, und ließ ihm durch die alte Frau sagen, er solle
mir seine schönsten seidenen Stoffe zeigen. Die Alte wollte, dass ich ihm das
selbst sagen sollte, aber ich erwiderte ihr, dass es eine meiner
Heiratsbedingungen sei, mit keinem andern Mann, als mit dem meinigen, zu
sprechen, und das sich nicht dagegen handeln dürfe.

Der Kaufmann zeigte mir mehrere Stoffe, und ich ließ ihn
nach dem Preise des einen fragen, der mir am besten gefiel. Er entgegnete der
Alten: Er ist mir weder um Gold noch Silber feil, aber ich will ihr ein Geschenk
damit machen, wenn sie mir erlaubt, sie auf die Wange zu küssen. Ich befahl der
Alten, ihm zu sagen, dass es sehr dreist von ihm wäre, mir diesen Vorschlag zu
machen. Aber statt mir zu gehorchen, stellte sie mir vor, dass das, was der
Kaufmann verlange, keine wichtige Sache sei, dass ich ja nicht zu sprechen,
sondern bloß die Wange hinzuhalten brauchte und dass es schnell abgemacht sein
würde. Ich hatte so große Luft, den Stoff zu besitzen, das sich einfältig
genug war, diesen Rat zu befolgen. Die alte Frau und die Sklavinnen stellten
sich vor mich, damit man mich nicht sehen könnte, und ich entschleierte mich,
aber, statt mich zu küssen, biss mich der Kaufmann bis aufs Blut. Mein Schmerz
und mein Erstaunen war so groß, dass ich ohnmächtig niedersank und dem
Kaufmann Zeit genug ließ, seinen Laden zu schließen und die Flucht zu
ergreifen. Als ich wieder zu mir selbst gekommen war, fühlte ich, dass meine
Wange ganz mit Blut bedeckt war. Die alte Frau und meine Sklavinnen hatten Sorge
getragen, sie alsbald mit meinem Schleier zu bedecken, damit die Leute, die
her liefen, nichts gewahr werden und glauben möchten, es sei nur eine
Ohnmacht, die mich befallen hätte.“

Indem Scheherasade diese letzten Worte sprach, sah sie das
Tageslicht und schwieg. Der Sultan fand das, was er eben gehört hatte, sehr
außerordentlich und stand auf, sehr neugierig, die Folge zu hören.


1)
Alles, was hier über die Trauer gesagt wird, ist nicht nur den Gebräuchen der Mohammedaner,
sondern selbst den Vorschriften des Koran zuwider. Im Allgemeinen kennt man
keine Trauer unter den Bekennern Mohammeds. Die Verbote des Koran sind darüber
ausdrücklich, und um eine Person zu bestrafen, welche sich zum Zeichen der
Trauer die Haare ausrisse, sagen sie: „Der große Gott würde ihr eben so
viel Häuser in die Hölle bauen, als sie sich Haare aus dem Kopf gerissen
hätte.“ Sie glauben auch noch, dass Gott das Grab aller derer verengen
wird, welche während ihres Lebens schwarze Kleider getragen haben, und dass sie
als Blinde wieder aufstehen werden. Diese Meinung hängt mit der einer
vollkommenen Ergebung in den Willen Gottes zusammen, welche eine der Hauptlehren
des Mohammedismus ist, und welche man oft, jedoch ganz irrig, mit dem Fatalismus
verwechselt hat. Indessen haben die Perser, die zur Sekte des Ali gehören, eine
Trauer von 40 Tagen, sie tragen jedoch nur 9 Tage lang Kleider von einer dunkeln
Farbe, haben aber für die ganz schwarze Kleidung dieselbe Abneigung, wie die
anderen Mohammedaner.