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699. Nacht

Die unglückliche Prinzessin empfand einen tiefen Schmerz,
als sie die Vorwürfe und den Befehl des Kalifen vernahm; sie wandte sich jetzt
zu Aladdin und fragte ihn, welche Ursache ihn bewöge, etwas Falsches
auszusagen, das ihnen beiden den Tod brächte.

„Ohne Zweifel,“ antwortete der unglückliche
junge Mann, „hat das Schicksal es so gewollt: Ich wollte gerade das
Gegenteil von demjenigen sagen, was mein Mund ausgesprochen, und es ist eine
Verirrung meiner Zunge, welche uns ins Verderben stürzt.“

Während dieses Gesprächs breitete man den ledernen
Teppich aus, welcher bald von ihrem Blut gefärbt werden sollte; man zerriss
ihre Kleider und verband ihnen die Augen. Der Scharfrichter fragte hierauf den
Kalifen, ob er zuhauen sollte, und der Kalif antwortete mit Ja. Drei Mal dem
Gebrauch gemäß wiederholte er dieselbe Frage, und drei Mal erhielt er dieselbe
Antwort; nun fragte er Aladdin, ob er vor dem Todesstreich noch etwas von ihm
begehrte. Aladdin bat sich’s zur Gnade aus, ihm auf einen Augenblick die Binde
abzunehmen, damit er noch zum letzten Mal seine Freunde sehen könnte.

Der Scharfrichter erfüllte seine Bitte. Aladdin blickte
um sich her und sah alle seine Freunde in Bestürzung. Hierauf wandte er sich
selber an den Kalifen und sprach folgendermaßen zu ihm:

„Herr, geruht Ihr, meine Hinrichtung noch drei Tage
aufzuschieben, so versichere ich Euch dreist, Ihr werdet Zeuge von den
außerordentlichsten Dingen sein.“

„Nach Verlauf dieser Frist,“ erwiderte ihm der
Kalif, „bist Du des Todes, und nichts vermag Dich meiner Rache zu
entziehen.“

Drei Tage waren schon verlaufen, und der Kalif war noch
von keinem der ihm verkündigten Abenteuer Zeuge gewesen; ungeduldig über diese
Zögerung, entschloss er sich, eine neue Verkleidung anzunehmen und auszugehen,
um selber dergleichen aufzusuchen. In dieser Absicht hüllte er sich in grobe
Kleider, warf einen schlechten Turban um seinen Kopf, bewaffnete sich mit einer
Patronentasche und einer Flinte und durchstrich am vollen Tag die Straßen von
Bagdad, ganz unbesorgt, in dieser Kleidung erkannt zu werden.

Er trat in einen Basar, als er einen jungen Mann sein
Erstaunen in den stärksten Worten ausdrücken hörte. Harun fragte ihn nach der
Ursache seines Erstaunens. „Da ist,“ antwortete ihm der junge Mann,
„eine alte Frau, welche den Koran mit lauter Stimme und so trefflich
auswendig hersagt, dass man glauben sollte, den Engel Gabriel selber zu hören,
der ihn unserm heiligen Propheten offenbarte: Und nun, diese Unglückliche sitzt
da schon lange Zeit , ohne dass jemand noch daran gedacht hat, ihr irgend etwas
zu schenken: Das ist die Ursache meines Erstaunens, und Ihr werdet eingestehen,
dass sie begründet ist.“