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687. Nacht

„Sechs Monatsreisen jenseits des Kaukasus,“ fuhr
er fort, „in den von jenen Geistern bewohnten Gegenden, welche sich gegen
Salomon empörten, wächst ein Kraut, dessen Kräfte mir dieser Prophet
offenbart hat, und welches alle Krankheiten der Menschen zu heilen vermag. Diese
Pflanze heißt das Vogelkraut, und sie wächst auf einer Insel, um welche die
bösen Geister strenge Wache halten. Indessen hat Euer Sohn zu seiner Gattin
eine so innige Liebe, dass er vielleicht nicht fürchtet, sein Leben zu wagen,
um das ihrige zu retten, und übrigens hat er schon so viel gute Werke getan,
dass Gott ihn ohne Zweifel gegen die Angriffe der bösen Geister in Schutz
nehmen wird.

Hierauf erweckte er vermittelst eines Riechfläschchens,
welches er bei sich trug, wieder die Lebensgeister des Sohnes Alis und sprach
dabei: „Kommt wieder zu Euch, junger Mann, und bemüht Euch, mit Ehrfurcht
den Willen des Allmächtigen und Allbarmherzigen anzuerkennen; bemüht Euch,
durch Eure Entsagung die siebzig Huris zu gewinnen, welcher unser heiliger
Prophet uns verheißt.“

„Ach,“ antwortete der junge Mann, „was sagt
Ihr mir jetzt von den Huris! Das ist, als wenn Ihr einem Armen, der Euch um ein
Glas Wasser anspricht, antwortet: „Du kannst Dich bald in den Flüssen des
Paradieses erfrischen,“ oder wie jener Rabbiner, welcher, einen
abtrünnigen Juden zu trösten, den der Kadi von Bagdad zum Galgen verdammt
hatte, ihm eine glänzende Beschreibung des Festes machte, welches Isaak und
Jakob ihm bereiteten. Ein über die Redseligkeit des Rabbiners ungeduldiger
Soldat stieß ihn in den Tigris mit den Worten: „Wohlan, guter Freund, geh
voran, um die Becher zum Fest auszuspülen.“

„Seid nicht untröstlich,“ fuhr der Emir fort,
„versucht, das Vogelkraut zu gewinnen; ich übernehme es, zu verhindern,
dass die Kranke während Eurer Abwesenheit sterbe, und will Euch alle nötigen
Anweisungen zur Erleichterung Eurer Reise geben.“

Der Sohn Ali Dschoharis dankte ihm für seine Güte und
bezeigte ihm sein Verlangen, sich baldigst auf den Weg zu begeben. Als der alte
Oberaufseher den Entschluss seines Sohnes sah, zerschmolz er in Tränen; er
stellte ihm alle die Gefahren vor, welchen er sich aussetzte ohne irgend einen
Anschein des Erfolgs; aber vergebens bemühte er sich, durch die Schilderung der
Besorgnisse, denen er selber preisgegeben sein würde, die Standhaftigkeit des
jungen Mannes zu erschüttern.

Der Emir beruhigte ihn in dieser Hinsicht.
„Nehmt,“ sprach er zu ihm, „hier dieses Baumwollenkorn, pflanzt
es in Eurem Garten und pflegt sorgfältig den Strauch, welchen es hervor treiben
wird: Solange er gedeiht, könnt Ihr über den Zustand Eures Sohnes ruhig sein;
wenn er aber vertrocknet, so scheint seine aufgesprungene Samenkapsel Euch zu
sagen: „Spinne meine Baumwolle zum Leichentuch für Deinen Sohn.“

Nachdem er dem jungen Mann die nötigen Anweisungen zu
seiner Reise durch die Tatarei und China gegeben hatte, nahm der Emir Abschied
von Ali Dschohari und kehrte nach seinem Palast zurück.

Alis Sohn säumte nicht, sich auf den Weg zu machen. Er
reiste Nacht und Tag, kam an die Grenzen von China und erreichte bald die
Hauptstadt dieses Reiches. Er durchwanderte ruhig diese Stadt, als man ihn zu
seinem Unglück für einen Muselmann erkannte. Da die Religion des wahren
Propheten in China verboten ist, so ergriff man den Sohn Ali Dschoharis und warf
ihn in ein finsteres Loch, um ihn zum Schlachtopfer für die Götzen des Landes
aufzubewahren. Hier erwartete der unglückliche Gefangene nun in Wehklagen den
unseligen Tag des Opfers, als der Ratschluss Gottes, welcher zur Rettung
derjenigen, welchen er wohl will, sich oft ihrer eigenen Feinde bedient, ihn aus
der Verlegenheit zog.

Ein chinesischer Herr, welcher die Stadt Damaskus kennen
zu lernen wünschte, hatte sich als Derwisch verkleidet und sich dort lange
aufgehalten. Er wohnte gerade in einer der von dem Ali Dschohari erbauten
Karawansereien, und da er fleißig die Moscheen besuchte, so hatten die
Predigten der Scheiche und die Handlungen der Barmherzigkeit, welche er die
Muselmänner ausüben sah, ihn von der Vortrefflichkeit des Islamismus
überzeugt, und er hatte beschlossen, die Wallfahrt nach Mekka zu machen. Der
wohltätige Ali Dschohari hatte ihn in den Stand gesetzt, sich nach dieser Stadt
zu begeben, wo er die Kaaba verehrte; und nachdem er den Brunnen Sem-Sem und das
Grab des heiligen Propheten zu Medina besucht hatte, war er in seine Heimat
zurückgekehrt.

Er betrat die Stadt in demselben Augenblick, als der Sohn
Alis geopfert werden sollte: Er fragte, wer das Schlachtopfer wäre, welches man
zum Tod bestimmt hätte, und geriet in den äußersten Unmut, als er vernahm, es
wäre ein Fremdling aus Damaskus, der Sohn des Ali Dschohari. Er wäre beinahe
in Ohnmacht gesunken, hatte aber noch Kraft genug, seine Bewegung zu verbergen;
und nachdem er die nötigen Erkundigungen über den Ort, wo der Sohn Alis
eingesperrt war, eingezogen hatte, ging er auf das nächste Feld hinaus. Dort
schlug er Feuer an, verbrannte Räucherwerk darin, und nachdem er gewisse Worte
ausgesprochen hatte, erwandelte er sich in einen Vogel.

So nahm er seinen Flug nach der Stadt zu dem Gefängnis,
drang durch die Eisengitter der Fenster und nahm hierauf seine natürliche
Gestalt wieder an: Nun stieg er eine Treppe von sechshundertundvierzig Stufen
hinab, kam so zu dem Sohn Ali Dschoharis und warf sich in seine Arme.