Project Description

682. Nacht

„Prinz, hier in dieser Höhle sind die Schätze des
Königs Salomon verwahrt, und dieser Prophet ist es, der mir befohlen hat,
diesen Ort zu hüten, welchen ich ohne seine Erlaubnis nicht verlassen darf.
Wenn Du diese Schätze zu sehen wünschst, so kann ich Dir den Eingang dazu
erleichtern und dir gestatten, nach Gefallen eine zahllose Menge edler Steine
von allen Gestalten und Farben zu beschauen, welche in den vierzig großen
Sälen am Ende dieses unabsehlichen Ganges verschlossen sind. Wenn Du den Boden
unter der Türe durchsuchst, so wirst Du die Schlüssel dieses ganzen Schatzes
finden. Willst Du Dich aber nicht mit Betrachtung dieser Reichtümer aufhalten,
so geh durch die Säle, bis Du an einen Vorhang mit achtzig Hefteln kommst,
welche Du ja nicht losknüpfen musst, ohne sie mit Baumwollfäden zu umwinden,
welche ich Dir geben werde. Hinter diesem Vorhang findest Du eine goldene Türe,
bedeckt mit hieroglyphischen Schriftzügen, welche Du lesen musst, bevor Du
weiter vordringst. Bist Du so glücklich, den Sinn derselben zu enträtseln, so
öffne die Türe mit Vorsicht, und ohne vor dem Geschrei der Geister und
Ungeheuer zu erschrecken, welche Dich in Deinem Lauf aufhalten wollen. Du wirst
hierauf ein unermessliches und stürmisches Meer erblicken, dessen Dasein auch
etwas übernatürliches hat. Geh am Ufer hin und ruf einem Schiff, welches Du
vorbeifahren siehst. Auf den ersten Wink, welchen Du tust, wird es herbeieilen,
Dich einzunehmen. Mehr kann ich Dir nicht sagen, denn ich vermag nicht, das
Zukünftige vorauszusehen. Ich weiß nur, dass ich Dich zum letzten Mal sehe:
Bevor ich Dir Lebewohl sage, will ich Dich aber noch mit diesem Schwert
bewaffnen, welches von Geistern geschmiedet ist.“

Habib war entzückt über diese Rede. Er drückte die Hand
seines alten Lehrers, ergriff das ihm dargebotene Schwert und schritt mit festem
Tritt durch die Höhle hin. Er erkannte bald die Türe, von welcher der Geist
ihm gesagt hatte, durchsuchte den Boden unter der Schwelle und fand einen
ledernen Sack mit mehreren Schlüsseln. Es war ihm leicht, denjenigen zu
erkennen, der zu der Türe passte, welche er öffnete. Er trat nun in ein hell
leuchtendes Zimmer, las hier eine Inschrift und enträtselte ihren Sinn. Es war
ein Spruch über die Eitelkeit der Welt und über die Notwendigkeit der Kraft
und des Mutes in gefährlichen Unternehmungen.

Als Habib sich dem Vorhang nähern wollte, welchen sein
Wegweiser ihm bezeichnet hatte, wurde er plötzlich von einer Menge Ungeheuer
und Gespenster angefallen, welche ihn mit Feuer und Rauch umhüllten. Aber seine
Unerschrockenheit wurde nicht erschüttert, und das furchtbare Geschrei, welches
ihn betäubte, hinderte ihn nicht, die empfangene Weisung zu befolgen. Er umwand
also die Heftel des Vorhanges sorgfältig mit Baumwolle, und sobald diese
Vorrichtung beendigt war, wurde es ihm leicht, den Vorhang aufzuheben: In
demselben Augenblick verschwanden alle die gespenstigen Wesen, welche ihn
umschwärmten. Er glaubte sich schon für immer von ihrer Verfolgung befreit,
als er die Unvorsichtigkeit beging, die Tür wieder zuzumachen, welche offen zu
lassen der Geist ihn geheißen hatte. Sogleich erschienen die Geister wieder und
bestürmten ihn mit Vorwürfen.

„Verwegener Sterblicher,“ riefen sie,
„warum kommst Du, die Einsamkeit zu stören, in welcher wir leben? Danke es
den Waffen, welche Dich beschützen, denn ohne ihre göttliche Kraft würdest Du
die Wirkungen unserer Wut empfunden haben. Aber schmeichle dir nicht, dass Dein
Mut die Prüfungen aushalten wird, welche Du noch bestehen musst.“

Habib war jedem Gefühl von Furcht unzugänglich, und
gleichwohl vermehrten sich die Gegenstände des Schreckens mit jedem Augenblick
unter seinen Schritten: Scheußliche Schlangen bedrohten ihn mit ihren spitzigen
Zähnen. Löwen und Tiger stürzten in den Weg. Der Donner rollte mit Macht.
Entsetzliche Wasserströme stürzten wütend hernieder. Habib aber schritt
furchtlos mitten durch alle diese Gefahren, und als seine Widersacher sahen,
dass alle ihre Anstrengungen fruchtlos waren, ließen sie ab, ihn zu peinigen:
Er konnte nun mit schnelleren Schritten vorwärts dringen und kam ohne Aufenthalt
an das Ufer eines wogenden Meeres. Aber vergeblich erwartete er den ganzen Tag
das Schiff, dessen Ankunft der Geist ihm verkündigt hatte.

Den zweiten Tag war er nicht glücklicher, und das Harren
war für ihn umso schmerzlicher, als er, ohne allen Vorrat, alle Qualen des
Hungers und des Durstes empfand. Vier Tage lang war er dieser grausamen Pein
hingegeben. Endlich erblickte er zwei Frauen, die aus dem Meer emporstiegen, und
deren Gespräch er aufmerksam anhörte.