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642. Nacht

Als sie sich etwas erholt hatte, ging sie landeinwärts
und fand eine freundliche Landschaft, mit Bächen und Fruchtbäumen, die ihren
Durst und Hunger stillten, reichlich versehen. Am zweiten Tage gelangte sie in
eine prächtige Stadt. Sie wurde wie alle Fremden vor den Sultan geführt, der
sie fragte, wer sie wäre. Sie erzählte ihm, sie hätte ihr Leben der
Frömmigkeit gewidmet und wäre auf der Wallfahrt nach Mekka begriffen, ihr
Schiff hätte an der Küste seines Landes Schiffbruch erlitten, und sie wüsste
nicht, ob sich außer ihr noch jemand gerettet hätte. Sie bat sodann den
Sultan, ihr eine Wohnung anweisen zu lassen, wäre es auch eine noch so elende,
wenn ihr nur seine Gnade dahin folgte, und sei verspräche ihm dafür, den
überrest ihrer Tage in Gebeten für sein Heil und das Heil seiner Untertanen
hinzubringen.

Der Sultan, der sehr fromm war und das Unglück der armen
Frau innig bedauerte, erfüllte ihr Gesuch gern und freundlich und ließ ihr ein
anmutiges Gartenhaus in der Nähe seines Palastes zu ihrem Wohnsitz anweisen, in
welchem er sie oft besuchte, sich mit ihr über religiöse Gegenstände besprach
und sich an diesen Gesprächen, da sie wirklich sehr fromm war, ungemein
erbaute.

Nicht lange nach ihrer Ankunft beten widerspenstige
Untertanen, die seit mehreren Jahren die gewohnten Abgaben verweigert hatten,
und gegen welche der Sultan, so sehr auch seine Einkünfte dadurch geschmälert
wurden, keine Gewalt brauchen wollte, reumütig um Vergebung und versprachen
für die Zukunft strenge Pflichterfüllung. Der Sultan schrieb dieses
glückliche Ereignis den Gebeten der heiligen, von ihm aufgenommenen Frau zu und
äußerte diese Meinung in vollem Diwan gegen seine Hofleute, die sie nun
weiterverbreiteten. Da, wie das Sprichwort sagt, die Schafe immer dem Leithammel
folgen, so war dies auch hier der Fall. Leute von allen Ständen erbaten sich
Gebete und Ratschläge von der heiligen Frau, und zwar mit so gutem Erfolg, dass
die Zahl der Bittenden sich täglich vergrößerte. Auch waren sie nicht
undankbar, und die Heilige hatte in kurzer Zeit eine höchst beträchtliche
Summe beisammen. Ihr Ruf erstreckte sich über die Grenzen des Reiches, in
welchem sie lebte, und verbreitete sich nach und nach über alle von den wahren
Gläubigen bewohnten Länder. Aus allen Reichen Asiens strömten diese in Menge
herbei, sie um ihre Gebete anzuflehen. In ihrem sehr erweiterten Wohnsitz
unterhielt sie eine große Anzahl verlassener Personen, auch speiste und
tränkte sie viel armes Volk, welches zu ihr pilgerte.

Doch es ist Zeit, dass wir zu ihrem frommen Gatten
zurückkehren. Der gute Kadi hatte ein ganzen Jahr lang in Mekka seine Andacht
verrichtet und alle heiligen Stellen in der Umgegend besucht, worauf er sodann
nach Bagdad zurückkehrte. Aber wie groß war sein Kummer, als er die Untreue
seiner Frau und die Abreise seines Bruders erfuhr, der, wie ihm gesagt wurde,
die über seine Familie gekommene Schande nicht zu ertragen vermocht und, ohne
seitdem etwas von sich hören zu lassen, die Stadt verlassen hätte. Diese
traurigen Nachrichten machten einen solchen Eindruck auf ihn, dass er allen
weltlichen Beschäftigungen und Sorgen entsagte und das Leben eines wandernden
Religiösen annahm, der von Ort zu Ort und von Land zu Land wanderte, um alle
wegen ihrer Heiligkeit bekannten Personen zu besuchen. Zwei Jahre hindurch hatte
er mehrere Königreiche durchreist, als der Ruf seiner Frau zu seinen Ohren
drang, ohne dass er jedoch ahnte, dass die, deren Namen mit Schande bedeckt war,
jene viel gepriesene Heilige wäre. Er reiste also nach der Hauptstadt des
Sultans, um durch ihre Gebete Trost zu erlangen.