Project Description

637. Nacht

Geschichte
des guten, ungerechterweise eingekerkerten Wesirs

Ein Wesir von anerkannter Treue und Rechtschaffenheit war
von seinen Feinden verleumdet und ohne weitere Untersuchung in einen finsteren
Kerker gebracht worden, in welchem er zu seiner täglichen Nahrung nichts als
Brot und Wasser erhielt. In diesem elenden Zustand blieb er sieben Jahre, nach
deren Verlauf der Sultan, sein Heer, der seiner Gewohnheit nach verkleidet in
der Stadt umherging, zufällig eines Tages in der Tracht eines Derwisches bei
dem Haus seines unglücklichen Ministers vorbeiging. Zu seinem Erstaunen sah er
es offen und eine Menge von Dienern damit beschäftigt, die Zimmer zu reinigen
und zum Empfang des Eigentümers zuzubereiten, der ihnen, wie sie erzählten,
aus seinem Gefängnis durch einen Boten hatte sagen lassen, sie möchten alles
in Ordnung bringen, denn er würde an diesem Tag wie Gunst des Sultans
wiedergewinnen und heimkehren. der Sultan, weit entfernt, an die Freilassung des
Wesirs zu denken, hatte ihn fast aus dem Gedächtnis verloren und war nicht
wenig über die äußerung der Diener erstaunt. Er meinte jedoch, die lange
Einkerkerung könnte dem Gefangenen wohl das Gehirn verrückt haben, und er
hätte in seinem Wahnsinn von seiner Befreiung geträumt. Er beschloss daher, in
seiner Verkleidung das Gefängnis zu besuchen, und bat, nachdem er, mit Brot und
Kuchen reichlich versehen, dort angelangt war, den Kerkermeister um die
Erlaubnis zur Erfüllung eines Gelübdes, den mitgebrachten Vorrat unter die
Gefangenen verteilen zu dürfen. Sie wurde ihm gewährt, und er durfte die
verschiedenen Kerker besuchen. Endlich kam er auch in den des Wesirs, welcher
eben seien Andacht verrichtete und, von dem vermeintlichen Derwisch darin
unterbrochen, diesen befragte, was er wollte. „Ich komme,“ sagte
dieser, „um Euch zu dem, was ich vernommen habe, Glück zu wünschen; denn
ob Ihr mich gleich nicht kennt, so habe ich doch den Himmel oft um Eure
Befreiung angefleht, und Eure Diener haben mir gesagt, dass Ihr heute frei zu
werden erwartet. Ich glaube jedoch nicht, dass der Sultan deshalb einen Befehl
erteilt hat.“ – „Das mag wahr sein, mitleidiger Derwisch,“
versetzte der Wesir, „aber glaube mir, bevor es Nacht wird, werde ich
befreit sein und mein Amt wieder antreten.“ – „Ich wünsche, dass es
so kommen möge: Aber auf welchen Grund baut Ihr eine Erwartung, deren
Erfüllung mir so unwahrscheinlich vorkommt?“ –