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623. Nacht

Geschichte
des Ins-al-Wudschud und der Wird-al-Ikmam

Vor langen Jahren lebte ein mächtiger Sultan, der einem
Wesir namens Ibrahim hatte, dessen Tochter die schönste ihres Geschlechtes und
die vollkommenste ihres Zeitalters war, weshalb man sie Wird-al-Ikmam oder die
Rose unter den Blumen nannte. Es war der Gebrauch des Sultans Schamich,
alljährlich die Edeln seines Königreiches und Personen, die sich in Künsten
und Wissenschaft auszeichneten, zu versammeln, wobei sie auf königliche Kosten
prächtig unterhalten wurden. Die ersteren entfalteten ihren Mut in
kriegerischen vor dem Fürsten gehaltenen übungen, die letzteren stellten die
Hervorbringungen ihres Genius und ihrer Geschicklichkeit aus, und es wurden von
sachkundigen Richtern denen, welche sie verdienten, Preise erteilt. An einem
dieser festlichen Tage saß die Tochter des Wesirs auf einem vergitterten Balkon
des Palastes, um den Spielen zuzusehen, und wurde von der männlichen Gestalt
und der Gewandtheit eines jungen Edelmannes namens Ins-al-Wudschud, das heißt
die Vollkommenheit der menschlichen Natur, so ergriffen, dass Liebe ihre ganze
Seele erfüllte. Sie zeigte ihn einer Vertrauten und gab ihr einen Brief, den
sie dem Gegenstand ihrer Liebe geben sollte. Der junge Mann, welcher ihre
Lobeserhebungen gehört hatte, war von seinem guten Glück entzückt, und als er
am folgenden Tage von ihrer Schönheit so viel gesehen hatte, als durch den
Golddraht des Balkons möglich war, entfernte er sich mit Liebe entbranntem
Herzen. Es wurden nun täglich, ja fast stündlich Brief zwischen ihnen
gewechselt; aber sie brannten vor Ungeduld nach einer Zusammenkunft, die endlich
festgesetzt wurde. Das Briefchen, welches Zeit und Ort bestimmte, wurde jedoch
leider von der Vertrauten verloren und dem Wesir gebracht, der, für die Ehre
seiner Familie besorgt, seine Tochter noch in derselben Nacht in ein entferntes
Schloss sandte, welches ihm gehört und auf einer Insel stand, die sich in einem
großen See befand, der von gebirgigen, wenig bewohnten Wüsten umgeben war. Das
unglückliche Mädchen musste sich ihrem Geschick unterwerfen; aber sie hatte
die Klugheit, vor ihrer Abreise auf die Außenseite ihres Balkons folgende Verse
zu schreiben: