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620. Nacht

Wie groß war jedoch ihr Erstaunen, als sie mitten in der
Nacht die Anker lichten befahl und die Warnung aussprach, bei Todesstrafe
stillzuschweigen und im Hafen keinen Lärm zu erregen. So stach nun das Schiff
ungehindert in See, worauf denn die unerschrockene Befehlshaberin die
erschrockenen Frauen tröstete, ihnen ihre eignen Abenteuer erzählte und sie
versicherte, dass sie, sobald sie nur wieder bei ihrem Geliebten wäre, wenn sie
es wünschten, sicher wieder in ihre Heimat gelangen sollten. Ihr freundliches
Benehmen gewann ihr nach und nach so sehr die Herzen ihrer Begleiterinnen, dass
sie ihrer Sorgen vergaßen, mit ihrer Lage zufrieden waren und sich in kurzem so
an ihre Gebieterin ketteten, dass sie diese, wenn es in ihrer Macht gestanden,
nie verlassen hätten. Nach der Fahrt von einigen Wochen war es nötig, auf die
erste Küste, die sich darbot, loszusteuern, um Mundvorrat und frisches Wasser
einzunehmen. Als man nun Land erblickte, nahte man sich demselben, das Schiff
ging vor Anker, und die Frau ging mit ihren Gefährtinnen ans Ufer. Hier wurden
sie von Räubern umgeben, welche sie mit Gefangenschaft und ihrer lüsternen
Begier bedrohten, worauf das heroische Fräulein, welches ihre Freundinnen bat,
ihre Furcht zu verbergen, eine lächelnde Miene annahm und zu dem Anführer der
Banditen sagte, Gewalt wäre ganz unnütz, denn sie und ihre Begleiterinnen wären
bereit, ihre Liebe zu teilen, da sie sich über die Vorurteile ihre Geschlechts
wegsetzten und sich dem Vergnügen geweiht hätten, welchem zuleibe sie von einer
Küste zur andern segelten, und nun, so lange sie wünschten, bei ihnen bleiben
wollten. Da diese Erklärung den sittenlosen Räubern ganz willkommen war, so
legten sie ihre stolzen Blicke und ihre Waffen ab und brachten alle Arten von
Vorrat im überfluss herbei, um ihre Schönen zu bewirten, mit denen sie sich nun
zu einem köstlichen Mahl niedersetzten, welches noch durch einen Vorrat von
Wein, den das Fräulein in Booten aus ihrem Schiff bringen ließ, verherrlicht
wurde. Freude und Fröhlichkeit herrschten, und die Räuber fingen an, nach
Liebesgenuss ungeduldig zu werden, als der Duft des Weines, in welches das kluge
Fräulein starke Opiate getan, plötzlich auf die Sinne der Lüsternen wirkte und
sie alle betäubt niedersanken. Sie zog hierauf mit ihren Gefährtinnen die Säbel
ihrer viehischen Bewunderer, und sie töteten sie alle bis auf den Anführer, dem
sie Hände und Füße mit starken Stricken banden und, nachdem sie ihm seinen
ganzen Bart abgeschnitten hatten, seinen Säbel um den Hals banden, damit er beim
Erwachen und beim Anblick seiner erschlagenen Gesellen eine Qual ärger als die
des Todes und ein schmerzliches Bedauern über das verlorene Glück empfinden
solle. Die Frauen nahmen nun aus den Höhlen der Räuber den Reichtum des dort
aufgehäuften Raubes, trugen ihn nebst einem Vorrat von Lebensmitteln und Wasser
in ihre Boote, kehrten in ihr Schiff zurück, lichteten die Anker und segelten
freudig und triumphierend von einer so gefährlichen Küste. Nach der Fahrt von
einigen Wochen entdeckten sie wieder Land und einen geräumigen Hafen, den eine
weitläufige und prächtige Stadt umgab. Das unternehmende Fräulein ging vor
Anker, zog nebst ihren Gefährtinnen prächtige männliche Kleider an, und so
fuhren sie, von reich gekleideten Matrosen gerudert, ans Ufer. Als sie gelandet waren, fanden sie
alle Bewohner der Stadt in Trauer und wehmutsvoller Klage über ihren Sultan,
der einige Tage zuvor gestorben war. Die Erscheinung eines von so glänzender
Begleitung umgebenen Prinzen erregte großes Erstaunen, und man benachrichtigte
sogleich den Wesir davon, der bis zur Erwählung eines neuen Monarchen, welche
eben stattfinden sollte, die Regentschaft führte. Der Minister glaubte in
dieser Ankunft ein Werk des Geschicks zu sehen, machte sogleich dem
vermeintlichen Prinzen seine Aufwartung und lud ihn ein, bei der Wahl
gegenwärtig zu sein, indem er ihm zugleich erzählte, dass, wenn in diesem
Königreich ein Sultan ohne Nachkommenschaft stürbe, nach den Landesgesetzen
die Wahl eines neuen Fürsten auf denjenigen unter der vor dem Palast
versammelten Menge fiele, auf dessen Schultern sich ein Vogel setzte, dem man
fliegen ließe. Der scheinbare Prinz nahm die Einladung an und wurde mit den
verkleideten Frauen in einen prächtigen, von allen Seiten offenen Pavillon
geführt, um die Feierlichkeit zu sehen. Als nun der Schicksalsvogel von seiner
Kette losgelassen wurde, schwang er sich hoch in die Luft und flog dann, nach
und nach herabschwebend, eine Weile auf dem Platz hin und her. Endlich flog er
in den Pavillon, woselbst das Fräulein und ihre Gefährtinnen saßen, flatterte
um ihren Kopf und setzte sich zuletzt auf ihre Schulter, indem er zugleich einen
Freudenschrei ausstieß, seinen Hals ausstreckte und mit den Flügeln schlug.
Sogleich verneigten sich der Wesir und die Hofleute bis auf den Boden, und die
versammelte Menge warf sich zur Erde, laut ausrufend: „Lange lebe unser
ruhmvoller Sultan, der von der Vorsehung und dem Geschick erwählte!“