Project Description

615. Nacht

Ich bemerkte, dass mein gütiger Wirt während seiner
gastfreundlichen Beschäftigungen zuweilen an seien Brust schlug und weinte,
woraus ich schloss, dass er verliebt und gleich mir auf der Wanderung wäre.
Meine Neugier regte sich, aber ich sagte zu mir selber: „Ich bin sein
Gast! Wie dürfte ich ihn mit peinlichen Fragen belästigen?“, und ich
hielt an mich. Als ich mich satt gegessen hatte, stand der Jüngling auf,
ging in sein Zelt, brachte seine Gießkanne und ein Becken nebst einem mit
Seide gestickten und mit Gold besetzten Handtuch, auch ein Fläschchen mit
Rosenwasser, das mit Moschus versetzt war. Ich staunte über sein Benehmen
und seine Artigkeit und rief innerlich aus: „Wie wunderbar ist der
Aufenthalt eines so trefflichen Jünglings in dieser wilden Wüste!“
Wir verrichteten unsere Abwaschungen und sprachen eine Weile über
verschiedene Gegenstände, worauf mein freundlicher Wirt in sein Zelt ging,
aus welchem er ein Stück rotseidenen Damast holte, den er zwischen uns
teilte, indem er zu mir sagte: „Bruder Araber, geh in mein Zelt und
suche Dir einen Ruheplatz; denn Deine Beschwerde und Ermüdung muss gestern
und heute groß gewesen sein.“

Ich ging in das Zelt und fand in einer Abteilung desselben
eine Matratze aus grünem Damast, worauf ich mich, nachdem ich meine Oberkleider
ausgezogen hatte, niederlegte und so gesund schlief, dass ich weder seitdem noch
vorher je einer so erquickenden Ruhe genoss. Endlich erwachte ich, als die Nacht
schon weit vorgerückt war, und begann, über meinen gastfreien Wirt
nachzudenken, ohne jedoch über ihn ins klare zu kommen, als ein sanftes
Geflüster, wie ich es nie süßer und zärtlicher vernommen hatte, meine Ohren
traf. Ich hob den Vorhang meiner Abteilung in die Höhe und erblickte ein
Frauenbild, schöner, als ich jemals eines gesehen, neben dem Eigentümer des
Zeltes sitzend. Beide weinten und klagten über die Qualen der Liebe und der
Trennung und über die Hindernisse, die ihre öfteren Zusammenkünfte unmöglich
machten. Ich sagte zu mir selbst: „Es liegt in diesem liebenswürdigen
Jüngling eine wunderbare Würde; doch lebt er hier allein, und ich habe kein
anderes Zelt auf der Erde gesehen. Was kann ich anderes vermuten, als dass diese
Schöne die Tochter eines guten Geistes ist, die sich in ihn verliebt und wegen
welcher er sich in diese Einsamkeit zurückgezogen hat!“ Achtung vor ihrer
Liebe veranlasste mich, den Vorhang fallen zu lassen, ich zog die Decke über
mich her und schlief wieder ein.

Als der Morgen dämmerte, erwachte ich, kleidete mich an
und sagte zu dem Jüngling, der schon aufgestanden war: „Bruder Araber,
wenn Du zu Deinen vielen mir erwiesenen Gefälligkeiten noch die fügen willst,
mich auf meinen Weg zu leiten, so wird meine Verpflichtung gegen Dich vollkommen
sein.“ Er sagte freundlich zu mir: „Wenn es Dir irgend genehm ist, so
vergönne mir, Dich drei Tage lang als meinen Gast bei mir zu behalten.“
Ich konnte seine gastfreundliche Bitte nicht abschlagen und blieb bei ihm. Am
dritten Tag wagte ich es, ihn nach seinem und seiner Familie Namen zu fragen,
worauf er mir sagte, dass er zu dem edlen Stamm Asra gehörte, und ich nun
erfuhr, dass er der Sohn meines Vaterbruders war. „Sohn meines
Oheims,“ rief ich aus, „was kann Dich dahin gebracht haben, die
Einsamkeit der Wüste zu suchen und Dich von Deinen Verwandten, Nachbarn und
Untergebenen zu trennen?“

Als er diese Frage gehört hatte, überströmten Tränen
seine Augen, er seufzte und sagte: „Ach, lieber Vetter, ich leibte die
Tochter meines Oheims leidenschaftlich und begehrte sie von ihm zur Gattin; aber
er versagte sie mir und vermählte sie einem anderen aus unserem Stamm, der
reicher ist als ich und sie mit sich nahm. Als sie nun so von mir gerissen war,
ergriff Verzweiflung meine Seele, ich verließ Verwandte, Freunde und
Gefährten, verleibte mich in die Einsamkeit und zog mich hierher zurück.“