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611. Nacht

Als er eines Tages in seinem Laden saß, sah er auf
der Straße seinen alten Gefährten Abu-Nyutin in elendem Aufzug, abgemagert
und mit eingesunkenen Augen, der mit kläglichem Geschrei die
Vorübergehenden um Almosen anbettelte. Abu-Nyut, der seine jammervolle Lage
bemitleidete, befahl einem Sklaven, ihm den Bettler zu rufen. Als er kam,
ließ er ihn nieder sitzen und sandte nach Erfrischungen, um ihn zu stärken
und zu sättigen. Er bat ihn hierauf, die Nacht in seinem Haus zuzubringen,
nahm ihn, nachdem er am Abend sein Laden geschlossen hatte, mit sich, ließ
ein warmes Bad für ihn bereiten und schenkte ihm, nachdem er gebadet hatte,
einen reichen Anzug. Das Abendessen wurde aufgetragen, und als sie sich satt
gegessen hatten, sprachen sie über allerlei Gegenstände. Endlich rief
Abu-Nyut aus: „Erinnerst Du Dich nicht auf mich, mein Bruder?“ –
„Nein, beim Allah, mein so freigebiger Wirt!“, versetzte der
andere, „sage mir, wer Du bist.“ – „Ich war,“ erwiderte
Abu-Nyut, „einst Dein Reisegefährte, aber meine Gesinnung ist noch
dieselbe, und ich habe unsere alte Verbindung nicht vergessen: Die Hälfte
von dem, was ich besitze, ist Dein.“

Nachdem er dies gesagt hatte, überschlug Abu-Nyut
sein Vermögen und gab die Hälfte davon seinem bekümmerten
Reisegefährten, der dann einen Laden mietete und ausstattete und gute
Geschäfte machte. Einige Zeitlang lebten die beiden Freunde in gutem
Vernehmen miteinander, bis Abu-Nyutin, welchen eine Unruhe befiel, den
Abu-Nyut aufforderte, ihren gegenwärtigen Aufenthalt zu verlassen und zu
ihrem Vergnügen und Nutzen zu reisen. „Mein teurer Freund,“ saget
Abu-Nyut, „wozu sollen wir reisen? Leben wir hier nicht in Ruhe und
Wohlhabenheit, und was können wir in einem andern Teile der Welt Besseres
genießen?“ Diese Entsagung machte auf Abu-Nyutin keinen Eindruck, und
er drang so sehr in seinen Freund, dass dieser endlich nachgab; und da eben
eine Karawane sich reisefertig machte, so luden sie eine beträchtliche
Anzahl von Waren auf Maulesel und Kamele und machten sich auf den Weg nach
Mossul.

Nachdem sie zehn Tage gereist waren, lagerten sie sich
eines Abends an einem tiefen Brunnen. Am folgenden Morgen ließ Abu-Nyut aus
eigenem Antrieb sich in den Brunnen herab, um die Wasserschläuche der
Karawane zu füllen, ohne dass er vermuten konnte, was ihm von der Vorsehung
bestimmt war; denn sein undankbarer Freund, der ihm sein Glück beneidete
und seinen Reichtum begehrte, schnitt den Strick des Brunnens ab, ließ die
Lasttiere beladen, überließ Abu-Nyut seinem Schicksal und setzte seine
Reise fort.

Abu-Nyut blieb den ganzen Tag ohne Speise, hoffte aber
in Demut von Allah seine Befreiung. In der Mitte der folgenden Nacht hörte
er zwei böse Geister miteinander sprechen. Der eine sagte: „Ich bin
nun vollkommen glücklich, denn endlich ist die Prinzessin von Mossul von
mir besessen, und niemand vermag mich auszutreiben, wenn er nicht an einem
Freitag während des Gottesdienstes in der großen Moschee einen Aufguss von
Wermut unter ihre Füße sprengt: Ein Mittel, auf welches wohl so leicht
keiner kommen wird.“ – „Ich,“ erwiderte der andere böse
Geist, „bin im Besitz eines Schatzes aus Gold und Juwelen, der in dem
Berg bei Mossul verborgen liegt, und gar nicht zu berechnen ist. Er ist auf
keine andere Weise zu heben, als wenn auf dem Berg ein weißer Hahn
geschlachtet und die Erde mit seinem Blut befeuchtet wird: Ein Geheimnis,
das schwerlich jemand erraten wird.“ Nachdem sie dies gesagt hatten,
flogen die beiden Geister fort.

Abu-Nyut merkte sich die Unterredung der beiden
Geister und wurde bei Tagesanbruch von einer Karawane, die Wasser bedurfte,
glücklich gerettet und durch Speise gestärkt. Er wurde nun befragt, durch
welchen Zufall er in dem Brunnen geblieben wäre; und er, die Verräterei
seines undankbaren Gefährten verbergend, erzählte, er wäre am Rand des
Brunnens eingeschlafen, hineingefallen, und da seine Reisegefährten ihn
nicht vermisst hätten, wäre ihre Karawane weiter gezogen. Er bat hierauf
um die Erlaubnis, seine großmütigen Befreier nach Mossul begleiten zu
dürfen, worein sie willigten und ihn mit allem Nötigen versorgten.