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606. Nacht

Der Sultan befahl nun, den jungen Prinzen vor ihn zu
bringen. Er kam und begrüßte den Sultan mit anmutsvoller Hochachtung.
„Bist Du der Besieger des Ungeheuers?“, rief der Sultan aus. „Ich
bin es,“ entgegnete der Prinz. „Sage mir, wie ich Dich belohnen
soll!“, versetzte der Sultan. „Ich bitte,“ erwiderte der Prinz,
„Gott und Euer Majestät, mir die Prinzessin, Eure Tochter, zur Gemahlin zu
geben.“ – „Verlange lieber einen Teil meiner Schätze,“ sagte der
Sultan. Hierauf bemerkten die Hofbeamten, dass er, da er die Prinzessin vom Tod
gerettet, auch ihrer würdig wäre; und als der Sultan endlich einwilligte,
wurde der Ehebund geschlossen. Der junge Prinz erheilt seine Braut, und die
Hochzeit wurde vollzogen. Gegen Ende der Nacht stand er auf, zog ihren Ring von
ihrem Finger, steckte ihr den seinigen an und schrieb ihr in die Handfläche:
„Ich bin Aladdin, der Sohn eines mächtigen Sultans, der in Yemen herrscht:
Kannst Du, so folge mir dorthin. Wo nicht, so bleib bei Deinem Vater.“

Als der Prinz dies getan hatte, verließ er seine
schlafende Braut, den Palast und die Stadt und reiste weiter. Auf dieser Reise
heiratete er eine zweite Frau, die er von einem Elefanten befreit hatte und auf
gleiche Weise verließ. Aber das dabei Vorgefallene ist des Erzählens nicht
wert.

Nachdem der Prinz seine zweite Frau verlassen hatte,
reiste er weiter, um den Vogel aufzusuchen, dem die Schnur von Perlen und
Smaragden gehört hatte, und erreichte endlich die Stadt, in welcher die
Besitzerin des Vogels – Tochter des sehr mächtigen Sultans – lebte. Er
durchstrich mehrere Straßen, bis er endlich einen alleinsitzenden ehrwürdigen
Greis gewahrte, der ein Alter von mindestens hundert Jahren erreicht zu haben
schien. Er näherte sich ihm und fragte ihn, nachdem er ihn mit Ehrfurcht
begrüßt und ein Gespräch mit ihm angeknüpft hatte, ob er ihm wohl eine
Nachricht über einen Vogel, dessen Ketten aus Perlen und Smaragden beständen,
oder von dessen Besitzerin geben könnte.

Der Greis schwieg, in Gedanken vertieft, einige
Augenblicke, worauf er sagte: „Mein Sohn, viele Sultane und Prinzen haben
diesen Vogel und die Prinzessin, der er gehört, zu erhalten gewünscht. Aber
ihre Bemühungen sind erfolglos gewesen: Verschaffe Du Dir jedoch sieben
Lämmer, töte sie, zieh ihnen die Haut hab und zerteile sie in zwei Hälften.
In dem Palast sind acht Höfe, vor den Toren von sieben derselben stehen zwei
hungrige Löwen, und in dem letzten, in welchem die Prinzessin wohnt, befindet
sich vierzig Sklaven. Geh und versuche Dein Glück.“

Der Prinz bedankte sich bei dem alten Mann, empfahl sich
ihm, verschaffte sich die Lämmer, durchschnitt sie nach der Vorschrift, und
gegen Mitternacht, als die Fußtritte der Menschen verhallt waren, begab er sich
zu dem ersten Tor, vor welchem er zwei ungeheure Löwen erblickte, deren Augen
gleich Ofenfeuern flammten. Er warf jedem ein halbes Lamm vor und ging vorbei,
während sie es verschlangen. Durch diese List gelangte er glücklich bis in den
achten Hof, an dessen Tor die vierzig Sklaven in tiefen Schlaf versunken lagen.
Er ging vorsichtig hinein und sah die Prinzessin in einem prächtigen Saal, die
auf einem kostbaren Bett ruhte, neben welchem sich ihr Vogel in einem Käfig aus
Golddraht, mit herrlichen Edelsteinen geziert, befand. Leise nahte er sich ihr
und schrieb ihr in die flache Hand: „Ich bin Aladdin, der Sohn eines
Sultans von Yemen. Ich habe Dich schlafen sehen und Deinen Vogel mit mir
genommen. Solltest Du mich lieben oder Deinen Liebling wieder zu erhalten
wünschen, so komm in meines Vaters Hauptstadt.“ Hierauf verließ er den
Palast, erreichte die Ebene und rastete erst am andern Morgen.

Nachdem er sich ausgeruht und Allah angefleht hatte, ihn
vor Entdeckung zu beschützen, ritt er bis Sonnenuntergang, wo er ein arabisches
Lager erblickte, in welches er sich begab und um ein Obdach bat.