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605. Nacht

Der Prinz hatte kaum diese Worte gesprochen, als eine
dichte Staubsäule aufstieg, aus welcher mit schrecklichem Geheul und
entsetzlicher Wut das Ungeheuer hervorkam, seine riesigen Seiten mit seinem
dicken Schweif schlagend. Die Prinzessin, voll Todesangst, schrie verzweifelnd
auf; aber der Prinz zog seinen Säbel und stellte sich dem Ungeheuer in den Weg,
welches nun in seiner Wut aus beiden Nasenlöchern Feuer spie und auf den
Prinzen zusprang. Der tapfere Jüngling entging mit wundersamer Gewandtheit
seinen Klauen, wartete, seine Bewegungen genau beobachtend, eine Gelegenheit ab,
um auf das furchtbare Untier einzudringen und ihm mit seinem Säbel das Haupt
zwischen beiden Augen zu spalten, worauf das grässliche Tier niederfiel und
unter schrecklichem Gebrüll sein Leben aushauchte.

Als die Prinzessin das Ungeheuer verscheiden sah, lief sie
auf ihren Befreier zu, wischte ihm mit ihrem Schleier Staub und Schweiß vom
Gesicht und bedankte sich auf das innigste. Er sagte ihr, sie möchte zu ihren
Eltern zurückkehren. Sie wollte aber nicht und sagte zu ihm: „Mein Herr
und meines Lebens Licht, ich will Dein und Du musst mein sein.“ – „Das
ist vielleicht unmöglich,“ versetzte der Prinz und eilte in die Stadt, wo
er sich in einem abgelegenen Winkel eine Wohnung nahm. Die Prinzessin begab sich
in den Palast. Bei ihrem Eintritt waren ihre Eltern höchlich erstaunt und
fragten voll Unruhe nach der Ursache ihrer Heimkehr, da sie fürchteten, sie
wäre dem Ungeheuer entronnen, welches sich nun durch Zerstörung der Stadt
rächen würde.

Die Prinzessin erzählte die Geschichte ihrer Befreiung
durch einen schönen Jüngling, worauf sich der Sultan mit seinem Hof und
begleitet von dem größten Teil der Einwohner der Stadt zu dem Ungeheuer begab,
welches sie tot auf der Erde ausgestreckt fanden. Die ganze Stadt war nun mit
Danksagung und allgemeiner Freude erfüllt. Der Sultan, begierig, dem tapfern
Jüngling seine Dankbarkeit zu bezeigen, fragte die Prinzessin, ob sie ihren
Befreier, wenn sie ihn wieder sähe, wohl erkennen würde, was sie entschieden
bejahte; denn Liebe hatte sein Bild zu tief in ihr Herz gegraben, als dass es
verlöschen konnte.

Der Sultan ließ hierauf eine Bekanntmachung ergehen,
worin jedem Mann in der Stadt befohlen wurde, unter den Fenstern der Wohnung
seiner Tochter vorbeizugehen, welches drei Tage hintereinander geschah, ohne
dass sie ihren geliebten Retter erblickte. Der Sultan forschte nun nach, ob alle
Männer in der Stadt seinen Befehl befolgt hätten, und erfuhr, dass alle ihm
gehorsam gewesen, ausgenommen ein junger Mann in einem gewissen Haus, der ein
Fremder und deshalb nicht gekommen wäre. Der Sultan befahl ihm, zu erscheinen;
und er hatte sich kaum dem Fenster genähert, als die Prinzessin ihm ein
gesticktes Schnupftuch zuwarf, indem sie ausrief: „Dieser ist es, der uns
von den Klauen des Ungeheuers gerettet hat!“