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602. Nacht

Der alte Sultan beklagte laut den Verlust seiner beiden
Kinder, als der jüngste Sohn sagte: "Ich will reisen und das Schicksal
meiner Brüder kennen lernen." – "Ist es denn nicht genug,"
entgegnete der Vater, "dass ich die beiden verloren habe, willst Auch Du
ins Verderben rennen? Ich bitte Dich, mich nicht zu verlassen!" –
"Vater," erwiderte der Prinz, "das Schicksal treibt mich, meine
Brüder aufzusuchen, die ich vielleicht noch zu retten vermag. Geh ich aber
unter, so hab‘ ich nur meine Pflicht getan." Als er diese gesagt hatte,
reiste er trotz den Klagen und Tränen seiner Eltern, bis er den Wohnort des
Vogels erreicht und dort seine Brüder in Stein verwandelt gefunden hatte. Bei
Sonnenuntergang fragte der Vogel wie gewöhnlich; aber der Prinz enthielt sich,
Unrat merkend, des Sprechens, bis der Vogel endlich in seinen Käfig flog und
einschlief, worauf der Prinz sich leise näherte und die Tür des Käfigs
zumachte. Der Vogel erwachte von dem Geräusch und sagte, als er sich gefangne
sah: "Du hast den Preis gewonnen, o glorreicher Sohn eines mächtigen
Sultans." – "Wenn dem so ist," erwiderte der Prinz, "so sage
mir, durch welche Mittel Du so viele Menschen, die ich um mich her als
Marmorbilder sehe, bezaubert hast, und wie ich sie aus ihrem unglücklichen
Zustand zu erlösen vermag." – "Sieh," entgegnete der Vogel,
"jene zwei Erdhaufen, einer weiß und der andere blau: Der blaue
verwandelt, und der andere hebt die Verwandlung wieder auf."

Der Prinz nahm sogleich von der weißen Erde, und sowie er
sie auf mehrere Standbilder streute, wurden sie wieder belebt und ganz in ihren
vorigen Zustand hergestellt. Er umarmte seine beiden Brüder und empfing sowohl
ihren Dank für ihre Wiederbelebung als auch die Söhne mehrerer Sultane,
Paschas und anderer vornehmen Personen. Sie erzählten ihm, dass sich in der
Nähe eine Stadt befände, deren Einwohner sämtlich gleich ihnen in Stein
verwandelt wären. Dorthin begab er sich, und das Volk machte ihm, der es aus
seiner Bezauberung erlöst hatte, aus Dankbarkeit reiche Geschenke und wollte
ihn zu seinem Herrscher erzählen; aber er lehnte dies Anerbieten ab und
beschloss, seine Brüder in Sicherheit zu ihrem Vater zurück zu gleiten.

Obgleich die beiden älteren Prinzen ihrem Bruder ihre
Entzauberung verdankten, so beneideten sie ihm doch die erhaltenen kostbaren
Geschenke und den Ruhm, welchen er in der Heimat für sein Vollbringen ernten
würde. Sie sagten zueinander: "Wenn wir die Hauptstadt erreichen, wird das
Volk ihm Beifall spenden und ausrufen: "Seht, die beiden ältesten Brüder
sind von ihrem jüngsten aus dem Verderben gerettet worden!"

Da der jüngste Prinz mit Pferden, Kamelen und Fuhrwerken
für sich und seine Brüder versehen war, so trat er seinen Heimweg an und
näherte sich in bequemen Tagesreisen der Hauptstadt seines Vaters. Eine
Tagesreise weit von dieser befand sich ein schöner mit Marmor eingefasster
Teich. Am Ufer desselben befahl der Prinz, die Zelte aufzuschlagen, und er
beschloss, die Nacht dort zuzubringen und sich mit seinen Brüdern schmausend zu
ergötzen. Ein zierliches Mahl wurde bereitet, und er saß mit ihnen auf, bis es
Schlafenszeit war, wo sich jeder in sein Zelt begab und er sich mit einem Ring
am Finger, den er im Käfig des Bülbül-al-Syak gefunden hatte, schlafen legte.

Die neidischen Brüder sahen das als eine gute Gelegenheit
an, ihren großmütigen Retter umzubringen, standen in der Todesstille der Nacht
auf, ergriffen den Prinzen, warfen ihn in den Teich und schlüpften unbemerkt
wieder in ihre Zelte. Am Morgen gaben sie Befehle zum Aufbruch. Da jedoch das
Gefolge den jüngsten Prinzen vermisste, so fragten sie nach ihm, worauf die
Brüder entgegneten, er schliefe noch, und man sollte ihn nicht stören. Dabei
beruhigte man sich, und der Zug erreichte die Hauptstadt des Vaters, der voll
Freuden über ihre Rückkehr war und die Schönheit des Bülbül-al-Syak, den
sie mitgenommen hatten, bewunderte, aber da er seinen jüngsten Sohn nicht sah,
begierig nach diesem fragte.

Die Brüder erwiderten: "Wir wissen nichts von ihm
und erfahren erst jetzt, dass er eine Reise unternommen hat, um den Vogel
aufzusuchen, den wir mitgebracht haben." Der Sultan liebte seinen jüngsten
Sohn innigst, und da er hörte, dass seine Brüder ihn nicht gesehen hätten,
schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und rief aus: "Ach! Ach! Es
ist keine Hilfe als bei dem Allmächtigen, von welchem wir kommen, und zu
welchem wir zurückkehren müssen!"