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6. Nacht

Als die sechste Nacht gekommen war, legte der
Sultan mit seiner Gemahlin sich nieder. Dinarsade erwachte zur gewöhnlichen
Stunde, und redete die Sultanin an. Da nahm Schachriar das Wort, und sagte:
„Ich wünschte wohl die Geschichte des zweiten Greises mit den beiden
schwarzen Hunden zu hören.“ – „Ich will sogleich eure Neugier
befriedigen, Herr,“ antwortete Scheherasade. „Der zweite Greis,“
fuhr sie fort, „erzählte dem Geiste seine Geschichte, und begann
also:“

Geschichte
des zweiten Greises und der beiden schwarzen Hunde

„Mächtiger Fürst der Geister, du musst
wissen, dass wir drei Brüder sind, diese beiden schwarzen Hunde, die du hier
siehst, und ich bin der dritte. Unser Vater hatte bei seinem Ableben jedem
tausend Zeckinen1) hinterlassen. Mit dieser Summe fingen wir alle drei dasselbe
Gewerbe an: wir wurden Kaufleute. Kurze Zeit, nachdem wir unsere Laden eröffnet
hatten, beschloss mein älterer Bruder, der eine dieser beiden Hunde, zu reisen
und in fremden Ländern Geschäfte zu machen. In dieser Absicht verkaufte er all
sein Gut, und kaufte dafür Waren, welche dem Handel, den er treiben wollte,
angemessen waren.

Er reiste fort, und war ein ganzes Jahr lang
abwesend. Nach Verlauf dieser Zeit trat ein Armer, der mich um Almosen
anzusprechen schien, an meinen Laden. Ich sagte zu ihm: „Gott sei mit
dir!“ – „Gott sei auch mit dir!“ antwortete er, „ist es
möglich, dass du mich nicht erkennest?“ Darauf betrachtete ich ihn
aufmerksam, und erkannte ihn. „Ah! Mein Bruder,“ rief ich aus, indem
ich ihn umarmte, „wie hätte ich dich in diesem Zustande erkennen
sollen?“ Ich führte ihn in mein Haus und erkundigte mich nach seiner
Gesundheit und nach dem Erfolg seiner Reise. „Frage mich nicht
darnach:“ antwortete er mir, „indem du mich ansiehst, siehst du alles.
Es würde meinen Schmerz erneuern, wenn ich dir alle Unglücksfälle
umständlich erzählen sollte, welche mir seit einem Jahre zugestoßen sind, die
ich in den Zustand gebracht, in welchem ich mich befinde.“

Ich ließ sogleich meinen Laden zuschließen;
und alles andere hintenansetzend, führte ich ihn ins Bad und gab ihm die
schönsten Kleider aus meinem Vorrat. Ich untersuchte meine Rechnungsbücher,
und da ich fand, dass sich mein Vermögen verdoppelt hatte, das heißt, dass ich
zweitausend Zeckinen reich war, so gab ich ihm davon die Hälfte. „Damit,
mein Bruder,“ sagte ich zu ihm, „wirst du den Verlust, den du erlitten
hast, verschmerzen können.“ Er nahm die tausend Zeckinen mit Freuden an,
richtete sein Geschäft wieder ein, und wir lebten miteinander, wie wir zuvor
gelebt hatten.

Einige Zeit darauf wollte mein zweiter
Bruder, welches der andere dieser beiden Hunde ist, auch sein Gut verkaufen. Wir
anderen Brüder taten alles, was wir vermochten, um ihn davon abzubringen, aber
es half nichts. Er kaufte Waren, welche dem auswärtigen Handel, welchen er
unternehmen wollte, angemessen waren. Er schloss sich einer Karawane an, und
reiste fort.

Nach Verlauf eines Jahres kam er in demselben
Zustande heim, wie sein älterer Bruder. Ich ließ ihn kleiden! und da ich
abermals tausend Zeckinen über mein Kapital gewonnen hatte, so gab ich sie ihm.
Er öffnete wieder einen Laden, und trieb sein voriges Gewerbe.

Eines Tages kamen meine beiden Brüder zu
mir, und schlugen mir vor, mit ihnen eine Reise zu machen und gemeinsam Handel
zu treiben. Ich verwarf anfangs ihren Antrag. „Ihr habt nun gereist,“
sagte ich zu ihnen, „und was habt ihr dabei gewonnen? Wer versichert mir, dass
ich glücklicher sein werde, als ihr?“ Vergebens stellten sie mir alles
vor, was ihrer Meinung nach mich blenden und reizen müsste, mein Glück zu
versuchen; ich schlug es ab, in ihr Unternehmen einzugehen. Sie kamen jedoch so
oft auf denselben Gegenstand zurück, dass ich, nachdem ich fünf Jahre lang
standhaft ihrem Andringen widerstanden hatte, mich endlich doch ergab. Aber als
nun die Vorbereitungen zu der Reise getroffen werden sollten, und die Rede war
von den Waren, deren wir dazu bedurften, da fand es sich, dass beide alles
aufgezehrt hatten und gar nichts von den tausend Zeckinen übrig war, die ich
jedem von ihnen gegeben hatte. Ich machte ihnen nicht den geringsten Vorwurf
darüber: Im Gegenteil, da mein Vermögen sich auf sechs tausend Zeckinen
belief, so teilte ich die Hälfte mit ihnen, indem ich sagte: „Meine
Brüder, wir wollen diese tausend Zeckinen daran wagen, und die andere Hälfte
an irgend einem sicheren Orte verbergen, damit, wenn unsere Reise nicht
glücklicher ausfällt als die, welche ihr schon gemacht habt, wir noch etwas
haben, uns darüber zu trösten, und unser altes Gewerbe wieder aufnehmen
können.“

Ich gab also jedem tausend Zeckinen, behielt
ebenso viel für mich, und begrub die andern dreitausend in einem Winkel meines
Hauses. Wir kauften nun Waren, und nachdem wir uns zusammen ein Schiff gemietet
und uns eingeschifft hatten, gingen wir mit einem günstigen Winde unter Segel.

Nach der Fahrt eines Monats …

„Aber ich sehe, es ist schon Tag,“
unterbrach sich Scheherasade. Schachriar stand auf, wie den vorigen Tag, und gab
dem Großwesir keinen Befehl, seine Tochter töten zu lassen.


1)
Diese in Venedig und in der Levante nun sehr gebräuchliche Goldmünze gilt 12
Franken 4 Zentimen. Die venezische Zeckine gilt 11 Franken 82 Zentimen = 1
Dukaten. Das arabische tzikke, Münze, ist ohne Zweifel eins mit dem ital.
zeccha, Münze, davon zecchino.