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597. Nacht

An dem dritten Tag begab sich die Alte wieder in das Haus
des Kaufmanns und wurde von Mutter und Tochter freudig aufgenommen, die ihr
Hände und Füße küssten und sie willkommen hießen. Sie betrug sich wie das
vorige Mal und flößte noch mehr Ehrfurcht vor ihrer Heiligkeit ein. Ihre
Besuche wurden nun immer häufiger, und sie war der Familie des Kaufmanns stets
ein willkommener Gast. Endlich sagte sie eines Abends, als sie eintrat:
„Ich habe eine einzige Tochter, deren Hochzeit heute gefeiert wird. Ich
wünsche, dass meine liebe junge Freundin der Feier beiwohne und ihr dabei der
Segen meiner Gebete zuteil werde.“ Die Mutter wollte die Tochter nicht
gehen lassen, da sie befürchtete, dass ihr irgend ein Unfall begegnen möchte,
worauf die vorgebliche Fromme ausrief: „Was kannst Du fürchten, solange
ich und andere fromme Frauen mit ihr sind?“ Da nun die Tochter große Lust
bezeigte, der Hochzeitsfeier beizuwohnen, so willigte ihre Mutter endlich ein.

Als die Tochter des Kaufmanns sich nun in ihren schönsten
Anzug gekleidet hatte, begleitete sie die Alte, welche sie durch mehrere
Straßen in die Wohnung des ehemaligen Fischers und jetzigen Günstlings des
Sultans führte, der ihre Ankunft begierig erwartete. Das junge Mädchen war
erstaunt, einen hübschen Mann zu sehen, der, wie sie wohl bemerkte, sein
Entzücken über ihren Anblick kaum zurückhalten konnte. Ihre erste Bestürzung
über die ihr von der scheinheiligen Alten gelegte Schlinge war sehr groß. Da
sie aber viel Gegenwart des Geistes besaß, so verbarg sie ihre Furcht und
überlegte, wie sie wohl entwischen könnte. Sie setzte sich und sagte, nachdem
sie sich im Zimmer umgesehen hatte, mit verstelltem Lachen: „Es ist
gebräuchlich, dass ein Liebhaber, wenn er seine Geliebte zu sich einladet, ein
Festmahl bereit hält; denn was ist Liebe, wenn kein Fest sie feiert? Wenn Ihr
daher wollt, dass ich den Abend bei Euch zubringen soll, so geht und holt einige
Erfrischungen herbei, damit unsere Lust vollkommen werde. Ich will indessen hier
bei meiner guten Mutter bleiben und auf Eure Rückkehr warten.“

Der Günstling rief voll Freuden über ihr Begehren aus:
„Dein Wille ist mir Gesetz,“ worauf er nach dem Markt ging, um ein
köstliches Mahl zu besorgen. Als er fort war, schloss das Mädchen die Türe
hinter ihm zu, bedankte sich bei der Alten, dass sie ihr zu einem so hübschen
Liebhaber verholfen hätte, und ging im Zimmer auf und ab, über ihre
Entwischung nachsinnend. Endlich bemerkte sie in einem Winkel einen scharfen,
bloßen Säbel, streifte sich die ärmel bis an die Ellbogen auf, ergriff die
Waffe und hieb damit so kräftig nach ihrer falschen, auf einem Sofa ruhenden
Freundin, dass sie der verworfenen Kupplerin das Haupt spaltete und diese sich
in ihrem Blut wälzte, um nie wieder aufzustehen.

Die Tochter des Kaufmanns durchsuchte nun das Zimmer, und
da sie einen reichen Anzug fand, den der Günstling zu tragen pflegte, wenn er
den Sultan besuchte, rollte sie ihn in ein Bündel zusammen, nahm dieses unter
ihren Schleier, schloss die Türe auf und eilte heim. Sie erreichte glücklich
und ohne aufgehalten zu werden ihres Vaters Haus. Ihre Mutter hieß sie freudig
willkommen, als sie jedoch das Bündel sah, sagte sie: „Liebes Kind, was
hast Du denn auf der Hochzeit der armen Frommen erhalten?“ Das Mädchen,
deren Gemüt durch das Vorgefallene überreizt war, vermochte nicht zu
antworten, ihre Lebensgeister verließen sie bei dem Gedanken an ihre
gefährliche Flucht, und sie fiel in Ohnmacht. Die Mutter schrie laut um Hilfe.
Ihr Gatte und ihre Leute eilten herbei und wandten allerlei Mittel zur
Wiederherstellung des Mädchens an, das endlich, nachdem es wieder zu sich
gekommen war, das Vorgegangene erzählte. Der Kaufmann verwünschte das Andenken
der Alten ihres scheinheiligen Betruges wegen, tröstete seine tugendhafte
Tochter und eilte mit dem Anzug, den er konnte, und von dem er wusste, wem er
gehörte, zum Sultan.