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59. Nacht

Dinarsade rief, als es Zeit war, die Sultanin, und
Scheherasade fuhr, ohne sich bitten zu lassen, in der Erzählung des dritten
Kalenders, wie folgt, fort:

„Der junge Mensch,“ sagte der dritte Kalender,
„beruhigte sich bei diesen Worten, und bat mich mit lächelnder Miene, mich
zu ihm zu setzen. Als ich mich gesetzt hatte, sagte er zu mir: „Prinz, ich
will euch etwas erzählen, was euch durch seine Seltsamkeit überraschen wird.
Mein Vater ist ein Juwelenhändler, der durch seine Tätigkeit und
Geschicklichkeit in seinem Gewerbe sich große Reichtümer erworben hat. Er hat
eine große Menge von Sklaven und von Geschäftsführern, die auf ihnen
gehörigen Schiffen Seereisen machen, um die Verbindung zu unterhalten, die er
mit vielen Höfen hat, welche er mit dem gewünschten Edelsteinen versorgt. Er
war lange verheiratet, ohne Kinder zu haben, als ihm träumte, dass er einen
Sohn bekommen, dessen Leben aber nicht von langer Dauer sein würde, worüber er
sich bei seinem Erwachen sehr grämte. Einige Tage nachher verkündigte ihm
meine Mutter, dass sie schwanger sei und die Zeit, zu welcher sie empfangen zu
haben glaubte, stimmte sehr mit derjenigen überein, zu welcher mein Vater
seinen Traum gehabt hatte. Sie kam mit mir nach neun Monden nieder, und das
verursachte in der Familie große Freude. Mein Vater, der den Augenblick meiner
Geburt beobachtet hatte, befragte die Sterndeuter, die ihm sagten: „Euer
Sohn wird ohne Unfall fünfzehn Jahre leben. Aber als dann wird er Gefahr
laufen, das Leben zu verlieren und es wird schwer sein, dass er dieser Gefahr
entgeht. Wenn jedoch sein günstiges Geschick es will, das er nicht umkommt, so
wird sein Leben von langer Dauer sein. Zu dieser Zeit,“ fügten sie hinzu,
„wird die erzene Bildsäule, welche auf der Höhe des Magnetberges steht,
von dem Prinzen Agib, Sohn des Königs Kassib, ins Meer gestürzt werden und die
Gestirne sagen, dass fünfzig Tage nachher euer Sohn von diesem Prinzen getötet
werden soll.

Da diese Prophezeiung mit dem Traum meines Vaters
übereinstimmte, so wurde er lebhaft darüber bestürzt und betrübt. Er
unterließ jedoch nicht, viel Sorge für meine Erziehung zu tragen, bis zu
diesem Jahre, welches das fünfzehnte meines Lebens ist. Gestern erfuhr er, dass
vor zehn Tagen der Reiter von Erz von dem Prinzen, den ich euch vorhin genannt
habe, ins Meer gestürzt worden sei. Diese Nachricht hat ihm so viel Tränen
gekostet und so viel Unruhe gemacht, dass er in seinem gegenwärtigen Zustand
gar nicht zu erkennen ist. Die Vorhersagung der Sterndeuter berücksichtigend,
hat er Mittel gesucht, mein Horoskop Lügen zu strafen, und mir das Leben zu
erhalten. Seit langer Zeit hat er die Vorsicht gebraucht, mir diese Wohnung
bauen zu lassen, in welcher ich verborgen bleiben soll, bis nach dem Umsturz der
Bildsäule fünfzig Tage verflossen sind. Darum ist er nun, als er erfahren
hatte, dass dieser Umsturz vor zehn Tagen erfolgt wäre, hierher geeilt, und hat
mir versprochen, mich in vierzig Tagen wieder abzuholen. Was mich
betrifft,“ fügte er hinzu, „so hab‘ ich gute Hoffnung, und ich glaube
nicht, dass der Prinz Agib mich in der Mitte einer wüsten Insel unter der Erde
aufsuchen wird. Dies, Herr, ist, was ich euch zu sagen habe.“

Während der Sohn des Juwelenhändlers mir seine
Geschichte erzählte, spottete ich über die Sterndeuter, die prophezeit hatten,
ich würde ihm das Leben nehmen; denn ich fühle mich doch so weit von der
Erfüllung dieser Prophezeiung entfernt, dass ich, als er kaum aufgehört hatte
zu reden, mit Entzücken zu ihm sagte: „Mein lieber Herr, habt Vertrauen
auf Gottes Güte und fürchtet nichts: denkt, dass ihr eine Schuld zu bezahlen
hattet, und dass ihr jetzt davon frei seid. Ich bin sehr erfreut, dass ich mich,
nachdem ich Schiffbruch gelitten habe, glücklicher Weise hier befinde, um euch
gegen diejenigen zu verteidigen, die euch ans Leben wollen. Ich werde während
der vierzig Tage, welche die eitlen Berechnungen der Sterndeuter euch fürchten
lassen, nicht von euch weichen. Ich werde euch, während dieser Zeit, alle
Dienste leisten, die ich zu leisten vermag. Nachmals werd‘ ich niemals die
Verpflichtung vergessen, die ich gegen euch habe, und ich werde mich bemühen,
euch auf schuldige Weise meine Erkenntlichkeit zu bezeigen.“

Ich beruhigte durch diese Rede den Sohn des
Juwelenhändlers, und erwarb mir sein Vertrauen. Ich hütete mich wohl, aus
Besorgnis, ihn zu erschrecken, ihm zu sagen, dass ich dieser Agib wäre, den er
fürchtete, und ich nahm mich sehr in Acht, die geringste Vermutung in ihm zu
veranlassen. Wir unterhielten uns bis in die Nacht von verschiedenen
Gegenständen, und ich bemerkte, dass der junge Mensch viel Verstand hatte. Wir
aßen zusammen von seinen Mundvorräten. Er hatte deren eine so große Menge,
dass er am Ende der vierzig Tage noch viel davon gehabt haben würde, wenn er
auch noch andere Gäste als mich gehabt hätte. Nach dem Abendbrot fuhren wir
noch einige Zeit in unserer Unterhaltung fort, und legten uns dann nieder.

Den folgenden Morgen reichte ich ihm, nachdem er
aufgestanden war, einen Becher mit Wasser. Er wusch sich; ich bereitete das
Mittagessen, und trug es auf, als es Zeit war. Nach der Mahlzeit erfand ich ein
Spiel, um nicht bloß an diesem Tage, sondern auch an den folgenden die
Langeweile zu vertreiben. Ich bereitete das Abendbrot ebenso, wie ich das
Mittagsbrot bereitete hatte. Wir aßen zu Abend, und legten uns nieder, wie am
vergangenen Tage. Wir hatten Zeit genug, um ein Freundschaftsgelöbnis zu
schließen. Ich bemerkte, dass er Zuneigung zu mir fühlte, und ich,
meinerseits, fühlte zu ihm eine so starke, dass ich oft zu mir selbst sagte,
dass die Sterndeuter, welche dem Vater gesagt hatten, dass sein Sohn von meinen
Händen getötet werden würde, Betrüger wären, und dass es nicht möglich
sei, dass ich eine so abscheuliche Handlung begehen könne. Kurz, verehrte Frau,
wir brachten 39. Tage auf das angenehmste von der Welt an diesem unterirdische
Orte zu.

Der vierzigste kam. Als der junge Mensch des Morgens
erwachte, sagte er mit einem Entzücken, das er nicht bemeistern konnte, zu mir:
„Prinz, da ist nun der 40. Tag gekommen und ich bin, dem Himmel und eurer
guten Gesellschaft sei’s gedankt, noch nicht gestorben. Mein Vater wird nicht
unterlassen, euch alsbald seine Erkenntlichkeit zu bezeigen, und euch alle
nötigen Mittel und Bequemlichkeiten zur Heimkehr in eurer Königreich zu
verschaffen. Doch bitt‘ ich euch, dass ihr inzwischen die Güte habt, Wasser zu
wärmen, damit ich mir in dem tragbaren Bade den ganzen Leib waschen kann, ich
will mich reinigen und die Kleider wechseln, um meinen Vater besser zu
empfangen.“ Ich setzte Wasser ans Feuer, und als es lau war, füllte ich
damit das Bad. Der junge Mensch setzte sich hinein und ich selbst wusch und rieb
ihn. Er stieg heraus, legte sich in sein von mir bereitetes Bett und ich deckte
ihn mit seiner Decke zu. Nachdem er sich ausgeruht und einige Zeit geschlafen
hatte, sagte er zu mir: „Mein Prinz, seid so gut und bringt mir eine Melone
und Zucker, damit ich davon esse, um mich zu erfrischen.“

Von mehreren Melonen, die wir noch hatten, wählte ich die
erste und legte sie auf einen Teller, und da ich kein Messer fand, um sie zu
zerschneiden, fragte ich den jungen Menschen, ob er nicht wüsste, wo eines
läge. „Es liegt eins,“ erwiderte er mir, „auf dem Gesims hier
über meinem Kopf.“ In der Tat erblickte ich es dort; aber ich beeilte mich
zu sehr, es zu ergreifen, und während ich es in der Hand hatte, verwickelte
sich mein Fuß dermaßen in die Decke, dass ich ausglitt und so unglücklich auf
den jungen Mann fiel, dass ich ihm das Messer ins Herz stieß. Er starb
augenblicklich.

Bei diesem Schauspiel stieß ich ein schreckliches
Geschrei aus. Ich zerschlug mir Kopf, Gesicht und Brust. Ich zerriss mein Kleid
und warf mich auf die Erde mit unaussprechlicher Betrübnis und Reue.
„Ach,“ rief ich aus, „es fehlten ihm nur einige Stunden, um aus
der Gefahr befreit zu sein, gegen welche er einen Zufluchtsort gesucht hatte;
und während ich selbst darauf rechne, dass die Gefahr vorbei ist, werde ich
sein Mörder, und mache die Prophezeiung zur Wahrheit. Aber, Herr,“ fügte
ich hinzu, indem ich Haupt und Hände zum Himmel erhob, „vergib mir; und
bin ich strafbar wegen seines Todes, so lass mich nicht länger leben.“

Da Scheherasade bei dieser Stelle den Tag anbrechen sah,
so war sie genötigt, diese traurige Erzählung zu unterbrechen. Der Sultan von
Indien war davon bewegt, und da er einige Unruhe darüber fühlte, was wohl aus
dem Kalender werden würde, so hütete er sich wohl, Scheherasade, die ihm
allein aus der Not der Neugier helfen konnte, an diesem Tage töten zu lassen.