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585. Nacht

Die Amme versetzte: "Er ist unstreitig der schönste
Jüngling unserer Zeit, und alle Frauen in der Stadt sind von seinen Reizen
entzückt; dabei ist er aber so verschämt, dass er kein Entgegenkommen erwidert
und sich wie ein Schulknabe zurückzieht: Doch will ich versuchen, seine Scheu
zu überwinden und Dir eine Zusammenkunft mit ihm zu verschaffen." Nachdem
sie dies gesagt, ging sie sogleich zu dem Taschenmacher, gab ihm ein Goldstück
und sagte ihm, er solle ihr doch zwei Reisetaschen und seinen Gehilfen
mitgeben." Der Mann war über ihre Großmut sehr erfreut, suchte seine
beste Ware aus und befahl seinem Gehilfen, die Amme zu begleiten.

Die alte Amme führte die verkleidete Prinzessin auf
Nebenwegen insgeheim in den Palast und in die Zimmer der Tochter des Sultans,
welche ihren vermeintlichen Geliebten mit einer Bewegung empfing, die zu heftig
war, um verborgen bleiben zu können. Unter dem Vorwand, die Ware zu bewundern,
fragte sie ihn mancherlei und forderte ihn auf, indem sie ihm zwanzig
Goldstücke gab, am folgenden Abend mit mehr Ware wiederzukommen, worauf der
vorgebliche Handwerksgeselle antwortete: "Dein Wille ist mir Gesetz!"

Die verkleidete Prinzessin gab, als sie nach Hause
gekommen war, die zwanzig Goldstücke ihrem Meister, der darüber unruhig wurde
und nachfragte, wo sie das Geld her hätte. Sie erzählte ihm nun das
Vorgefallene, worüber der Taschenmacher nur noch mehr erschrak und zu sich
selber sagte: "Wenn dieser Liebeshandel fortdauert, so wird ihn der Sultan
entdecken, ich werde hingerichtet und meine Familie dieses jungen Menschen wegen
zugrunde gerichtet werden." Er bat ihn hierauf, seinen Besuch nicht zu
wiederholen, aber der Jüngling erwiderte: "Ich kann das nicht, obwohl ich
fürchte, dass mein Tod die Folge davon sein wird." Kurz, die verkleidete
Prinzessin ging alle Abende zu einer bestimmten Stunde mit ihrer Amme in die
Zimmer der Sultanstochter, bis endlich der Sultan eines Abends eintrat, und da
er, wie er voraussetzte einen Mann bei der Prinzessin traf, so befahl er, ihn zu
ergreifen und ihm Hände und Füße zu binden.

Der Sultan schickte nach dem Scharfrichter, entschlossen,
den Schuldigen hinrichten zu lassen. Der Scharfrichter ergriff, als er gekommen
war, die verkleidete Prinzessin: Aber wie sehr erstaunten alle, als beim
Abnehmen des Turbans und beim Ausziehen ihrer Jacke ihr Geschlecht entdeckt
wurde. Der Sultan befahl, sie in seinen Harem zu führen, und verlangte ihre
Geschichte zu erfahren, welche sie nun auch, da ihr nichts anderes übrig blieb,
sogleich erzählte.

Als die Prinzessin dem Sultan alles getreulich berichtet
hatte, den Verrat des Wesirs, das darauf folgende Benehmen ihres Vaters, das
Elend ihrer Mutter, ihrer Schwestern und ihr eignes, ihre Befreiung, ihre
Errettung aus dem Schiffbruch, und was sich seitdem begeben: So befahl er voll
Verwunderung und Mitleid seiner Tochter, sie in ihrem Harme freundlich
aufzunehmen. Die Liebe der letzteren hatte sich nun in aufrichtige Freundschaft
verwandelt, und die glückliche Prinzessin erheilt unter ihrer Sorge und Pflege
in wenigen Monaten ihre frühere Schönheit wieder. Es begab sich, dass der
Sultan, der seine Tochter besuchte, von den Reizen der Prinzessin bezaubert
wurde, aber, da er die Gesetze der Gastfreundschaft nicht verletzen wollte,
seine Liebe verbarg, bis er gefährlich krank wurde, wo denn die Tochter, welche
die Sache merkte, ihn dahin brachte, dass er ihr die Ursache seiner Krankheit
entdeckte. Sie unterrichtete nun ihre Freundin davon und bat sie, ihren Vater zu
heiraten; aber die Prinzessin sagte bitterlich weinend: "Mein Missgeschick
hat mich von meiner Familie getrennt, ich weiß nicht, ob meine Schwestern, mein
Vater und meine Mutter noch leben, und in welchem Zustand. Wie kann ich
glücklich oder fröhlich sein, wenn sie vielleicht im Elend sind?"

Die Tochter des Sultans ließ nicht ab, die unglückliche
Prinzessin zu trösten, und stellte ihr zugleich den hoffnungslosen Zustand
ihres Vaters vor, bis sie endlich in die Heirat einwilligte. Diese freudige
Nachricht heilte den Sultan schnell, und die Hochzeit wurde mit großer Pracht
und Freude vollzogen. –