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580. Nacht

Einige Jahre nachher unternahm mein Vater eine Wallfahrt
nach Mekka und übertrug dem Wesir wieder die Regierung des Reichs. Als der
Sultan zehn Tage fort war, sandte der Wesir, der noch immer die Erfüllung
seiner Wünsche hoffte, aufs neue eine Dienerin ab, welche, als meine Mutter sie
vorgelassen hatte, sagte: "Habe doch um des Himmels willen Mitleid mit
meinem Herrn; denn sein Herz ist von Liebe verzehrt, seine Sinne sind zerstört,
und sein Leib schwindet dahin. Beherzige seine traurige Lage und richte ihn
durch das Lächeln der Herablassung wieder auf."

Als meine Mutter diese unverhoffte Botschaft angehört
hatte, befahl sie in ihrer Wut, die unglückliche Botin zu ergreifen, sie zu
erdrosseln und dann ihren Leichnam im äußersten Hof des Palastes öffentlich
zur Schau auszustellen, ohne jedoch die Ursache ihres Unwillens bekannt zu
machen. Ihre Befehle wurden vollzogen. Als die Staatsbeamten und andere die
Leiche sahen, benachrichtigen sie den Wesir von dem gesehenen, der,
entschlossen, sich zu rächen, ihnen befahl, für jetzt zu schweigen, weil er
erst nach der Heimkehr des Sultans bekannt machen wollte, weshalb die Sultanin
seine Dienerin, wie sie bezeugen könnten, hätte töten lassen.

Als nun die Zeit herannahte, dass der Sultan von Mekka
heimkehren sollte, und der verräterische Wesir ihn auf der Heimreise vermutete,
schrieb er ihm folgenden Brief:

"Nachdem ich dem Himmel für Deine glückliche
Rückkehr Dank gesagt, melde ich Dir, dass während Deiner Abwesenheit die
Sultanin fünf Mal zu mir gesendet und Unziemliches von mir verlangt hat, was
ich nicht zu tun vermochte, und dass ich ihr antwortete, ich könnte, wie sie
auch meinen Herrn und Herrscher betrügen und beleidigen wollte, ihren Wünschen
kein Gehör geben, da er mich zum Wächter seiner Ehre und seines Reiches
eingesetzt hätte. Mehr zu sagen ist überflüssig!"

Der überbringer dieses Schreibens erreichte das Lager des
Sultans, als es noch acht Tagesreisen von der Stadt entfernt war. Als mein Vater
den Brief erhielt und las, erblasste er, seine Augen rollten zornig umher, er
befahl, sogleich die Zelte abzubrechen, und beschleunigte seine Reise, bis er
noch zwei Tagesreisen von seiner Hauptstadt entfernt war. Dann machte er Halt
und sandte zwei vertraute Diener mit dem Befehl ab, unsere unschuldige und
unglückliche Mutter mit uns drei Schwestern eine Tagesreise weit von der Stadt
zu führen und uns dann zu töten. Wir wurden demnach aus dem Harem gerissen und
aufs Land geschleppt. Als wir aber an dem zu unserer Hinrichtung bestimmten Ort
angelangt waren, wurden die Herzen der damit beauftragten Diener zum Mitleid
bewegt; denn unsere Mutter hatte diesen Männern und ihren Familien viel Gutes
getan. Einer sagte zu dem andern: "Himmel, wir können sie nicht
ermorden!", und sie erzählten uns, was der Wesir an unsern Vater
geschrieben hatte, worauf die Sultanin ausrief: "Gott weiß, dass ich
höchst fälschlich angeklagt bin!" und erzählte ihnen dann treulichst
alles, was sie getan hatte.

Die Männer wurden über das Unglück zu Tränen gerührt
und sagten: "Wir sind überzeugt, dass Du wahrhaft gesprochen hast."
Sie fingen hierauf einige Antilopenkälber, töten sie, und nachdem sie jeder
von uns ein Unterkleid ausgezogen hatten, tauchten sie es in das Blut der Tiere
und kochten ihr Fleisch zur Stillung unseres Hungers. Unsere Erhalter sagten uns
nun Lebewohl, indem sie hinzufügten: "Wir vertrauen Euch dem Schutz des
Allmächtigen an, der diejenigen nie verlässt, die ihm vertrauen." Hierauf
verließen sie uns. Wir wanderten zehn Tage lang in der Wüste, indem wir von
Früchten lebten, die wir eben fanden, ohne eine Spur von Bevölkerung
anzutreffen, bis wir endlich glücklicherweise einen grünen Fleck erreichten,
der eine Menge Arten von trefflichen Früchten und Kräutern enthielt. Es befand
sich daselbst auch eine Höhle, in welcher wir ein Obdach zu suchen beschlossen,
bis eine Karawane vorbei käme. Am vierten Tag lagerte sich wirklich eine in der
Nähe unseres Zufluchtsortes. Wir kamen nicht zum Vorschein. Als aber die
Karawane sich wieder auf den Weg machte, folgten wir ihrem Zug in einiger
Entfernung und erreichten nach mehreren sehr beschwerlichen Resietagen diese
Stadt, wo wir uns eine Wohnung mieteten und dem allmächtigen Beschützer
unschuldiger Verlassener für unsere wunderbare Errettung aus den Gefahren des
Todes und der Wüste dankten.