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570. Nacht

Der Scharfrichter bemächtigte sich des junges Mannes,
kleidete ihn auf die vorgeschriebene Weise, setzte ihn auf das Kamel und führte
ihn durch die Straßen der Stadt, voran Wachen und ein Ausrufer, der da schrie:
„Seht hier die Bestrafung dessen, der es gewagt hat, das Heiligtum des
königlichen Harems zu verletzen!“ Dem Zug folgte eine unzählige
Volksmenge, die sowohl über die Schönheit des jungen Mannes als auch über
seine geringe Bekümmernis um sine eigene Lage erstaunte.

Endlich gelangte der Zug auf den Platz vor der großen
Moschee, und der Weise, durch den Lärm und den Zusammenlauf des Volkes
gestört, öffnete das Fenster seiner Zelle und sah die schmachvolle Lage seines
Schülers. Von Mitleid bewegt, rief er sogleich die Geister herbei (denn durch
seien Kenntnis in der Magie und in jeder geheimen Wissenschaft hatte er sie alle
in seiner Gewalt), befahl ihnen, den jungen Mann vom Kamel herab zu nehmen und an
seine Stelle unbemerkt einen hochbejahrten Mann zu setzen. Sie erfüllten diesen
Befehl, und als die Menge den jungen Mann nach ihrer Meinung in einen
wohlbekannten Greis verwandelt sah, so erschraken alle und riefen aus:
„Himmel! Der junge Mann ist also unser ehrwürdiges Oberhaupt der
Kräuterverkäufer?“, denn der alte Mann trieb seit langer zeit das
Geschäft, Kräuter und Zuckerrohr bei dem Tor nahe der großen Moschee zu
verkaufen, und war der älteste seines Gewerbes.

Als der Scharfrichter die mit seinem Gefangenen
vorgegangene Verwandlung sah, geriet er in große Verwirrung. Er kehrte mit dem
alten, auf dem Kamel sitzenden Mann, von der Menge begleitet, in den Palast
zurück. Hier eilte er zu dem Sultan und sagte: „Herr, der junge Mann ist
plötzlich verschwundne, und an seiner Stelle saß und sitzt ein ehrwürdiger
Greis, den die ganze Stadt kennt.“

Der Sultan war nicht wenig bestürzt über diese
Umwandlung und sagte zu sich selbst: „Wer das vermag, wird noch
Erstaunenswerteres vermögen: Er kann mich meiner Herrschaft entsetzen oder
meinen Tod bewirken.“

Die Furcht des Sultans nahm so überhand, dass er, da er
sich selber nicht zu helfen wusste, seinen Wesir rufen ließ und zu diesem
sagte: „Rate mir, was ich in dem Vorfall mit dem seltsamen jungen Mann tun
soll; denn ich bin ganz verworren darüber.“ Der Wesir neigte eine Weile
nachdenkend sein Haupt und sagte darauf zu dem Sultan: „Herr, ohne die
Hilfe der Geister oder eine andere unbegreifliche Macht hat niemand die Sache
bewirken können, und er wird Dir, wenn er erzürnt ist, in Zukunft in Betreff
Deiner Tochter noch eine größere Schmach zuzufügen imstande sein. Ich rate
Dir deshalb, in der ganzen Stadt ausrufen zu lassen, dass der Urheber jener
Verwandlung, wenn er sich Dir zu erkennen gibt, auf Dein unverbrüchliches
Sultanswort Vergebung erhalten soll. meldet er sich, so verheirate ihn, wenn
sein Gemüt vielleicht durch die Liebe versöhnt werden kann, mit Deiner
Tochter. Er hat sie und die andern Frauen des Harems schon gesehen, so dass nur
diese Heirat mit der Prinzessin Deine Ehre retten kann.“

Der Sultan billigte den Rat seines Wesirs, die
Bekanntmachung wurde erlassen, und der Ausrufer gelangte, nachdem er mehrere
Straßen durchzogen hatte, auf den Platz vor der großen Moschee. Als der
Schüler die Bekanntmachung hörte, geriet er in Entzücken, eilte zu dem Sultan
zu verfügen. „Mein Sohn,“ sagte der Weise, „warum willst Du das
unternehmen? Hast Du noch nicht genug gelitten?“ Der junge Mann erwiderte,
dass nichts ihn von seinem Vorhaben abbringen könnte, und der Weise sagte zu
ihm: „Folge Deinem Schicksal, und meine Gebete sollen Dich begleiten!“