Project Description

552. Nacht

Als der Sultan dies hörte, sagte er zu dem Kläger:
„Geh, Freund, und suche Dein Kamel, denn diese Bemerkungen zeihen die
Verklagten nicht des Diebstahls, sondern beweisen bloß ihren großen und
durchdringenden Verstand.“

Der Sultan bestellte Zimmer für die Fürsten und befahl,
sie sollten auf eine ihrem Rang angemessene Weise behandelt und verpflegt
werden, worauf er sie der Ruhe überließ. Als am Abend eine gewöhnliche Speise
aufgetragen wurde, sagte der älteste Prinz, der sich eines von den Broten
genommen hatte: „Dieses Brot ist gewiss von einem kranken Weib gebacken
worden.“ Der zweite, der von einem Zicklein kostete, rief aus: „Dieses
Zicklein wurde von einer Hündin gesäugt,“ und der dritte rief aus:
„Dieser Sultan ist gewiss ein untergeschobenes Kind.“

In diesem Augenblick trat der Sultan, welcher gehorcht
hatte, plötzlich ein und rief aus: „Warum führt ihr solche beleidigende
Reden?“ – „Forsche,“ erwiderten die Fürsten, „dem nach, was
Du gehört hast, du wirst alles richtig finden.“

Der Sultan begab sich in seinen Harem und erfuhr, als er
nachfragte, dass das Weib, welches das Brot geknetet hatte, krank war. Er sandte
hierauf zu dem Hirten, welcher gestand, dass, da die Mutter des Zickleins
gestorben wäre, eine Hündin es gesäugt hätte. Hierauf stürzte er in
heftiger Bewegung in das Zimmer der Sultanin-Mutter und bedrohte sie, sein
Schwert schwingend, mit dem Tod, wenn sie nicht bekenne, ob er wirklich der Sohn
des verstorbenen Sultans wäre oder nicht.

Die Sultanin erschrak und sagte: „Um mein Leben zu
erhalten, muss ich die Wahrheit gestehen. Wisse also, dass Du der Sohn eines
Kochs bist. Dein Vater hatte keine männlichen Nachkommen, worüber er sehr
unmutig war. Da nun das Weib unsres Kochs mit mir an einem Tag gebar – ich eine
Tochter und sie einen Sohn -, so schob ich diesen dem Sultan, dessen Kälte ich
fürchtete, unter, und dieser Sohn bist Du, der Du jetzt sein Reich
beherrscht.“

Der uneheliche Sultan verließ die Sultanin in Erstaunen
über den Scharfsinn der Brüder, die er in seine Gegenwart berief und befragte,
auf welche Gründe sie ihre richtigen Vermutungen über das Brot, das Zicklein
und ihn selbst gestützt hätten.

„Herr,“ antwortete der älteste Fürst,
„als ich das Brot brach, zerfiel der Teig; woraus ich schloss, dass die
Bäckerin nicht Kraft genug besessen hätte, um ihn hinlänglich zu kneten, und
unwohl gewesen sein müsste.“ – „Es ist, wie Du gesagt,“
erwiderte der Sultan. „Das Fett des Zickleins,“ fuhr der zweite Bruder
fort, „war durchaus nahe an den Knochen, und bei jedem anderen Tier, den
Hund ausgenommen, liegt es dicht unter der Haut. Daher meine Vermutung, dass
eine Hündin das Zicklein gesäugt hätte.“ – „Du hattest recht,“
sagte der Sultan, „aber wie hast Du meine Geburt erraten?“

„Mein Grund, Dich für unecht zu halten,“ sagte
der jüngste Fürst, „war, dass Du Dich nicht mit uns zu Tisch gesetzt
hast, da Du doch mit uns von gleichem Rang bist. Jedermann hat Eigenheiten, die
er von seinem Vater, seinem Großvater oder seiner Mutter erbt, von seinem Vater
Großmut oder Geiz, von seinem Großvater Tapferkeit oder Feigheit, von seiner
Mutter Schüchternheit oder Unverschämtheit.“ – „Du hast wahr
gesprochen,“ versetzte der Sultan, „aber wie kamt ihr denn dazu, ein
Urteil von mir zu verlangen, da ihr doch viel geschickter seid, schwierige
Aufgaben zu lösen, als ich? Kehrt in Eure Heimat zurück und vertragt Euch
untereinander!“

Die Fürsten kehrten heim und befolgten den Willen ihres
Vaters.