Project Description

548. Nacht

„Teure Amme,“ rief die Prinzessin aus,
„Deine zärtlichen Worte sind immer für mich ein lindernder Balsam
gewesen. Aber ich weiß nicht, warum sie gerade heute mehr Kraft haben, als
gewöhnlich: Ich fühle zum ersten Mal einen Strahl der Hoffnung bis auf den
Grund meiner Seele dringen.“

„Es ist ein Vorgefühl des Glücks, welches der
Himmel Dir sendet, meine Tochter,“ fuhr die Amme fort: „tröste Dich,
Dein Gatte ist, nach unzähligen Gefahren, endlich bis in dieses Land gelangt.
Er ist gegenwärtig in meiner eigenen Wohnung, und binnen kurzer Zeit wird er
bei Dir sein!“

Die Freude, welche in diesem Augenblick die arme Gefangene
durchdrang, wäre ihr fast tödlich geworden: Aber nachdem die Alte sie einige
kräftige Wohlgerüche einatmen lassen, kam sie wieder zu sich, und schickte die
ersten Worte, welche sie auszusprechen vermochte, dankbar gen Himmel.

Als die Amme sie ganz wieder hergestellt sah, umarmte sie
sie zärtlich, und verließ sie, um zu Asem zurückzukehren. Nachdem sie diesem
alles erzählt hatte, was zwischen der Königin und ihren Schwestern vorgegangen
war, riet sie ihm, seine Gattin so schleunig als möglich zu entführen.

Asem, außer sich, vergoss Tränen des Schmerzes und der
Wut, als er die Erzählung von der Grausamkeit der Königin hörte, und brannte
vor Ungeduld mit der Vielgeliebten seines Herzens wieder vereinigt zu sein.

Als die Nacht gekommen war, führte die Amme ihn an den
Fuß des Turmes, worin die Prinzessin versperrt war, und nachdem sie ihm alle
nötigen Weisungen gegeben, befahl sie ihn dem heiligen Propheten, und verließ
ihn eilig.

Asem brachte die übrige Nacht in Gebeten zu, und als er
die Morgenröte erblickte, setzte er seine Kappe auf den Kopf, und wurde allen
Augen unsichtbar. Die Königin erschien alsbald, im Gefolge mehrerer Sklavinnen.
Sie öffnete die Türe des Gefängnisses, und Asem, der sich unter ihr Gefolge
gemischt hatte, ging mit ihr hinein, ohne von jemand gesehen zu werden.

Mit Mühe hielt er die Gefühle des Schmerzes und der
Liebe zurück, welche ihn beim Eintritt in diese traurige Wohnung bestürmten,
er drückte sich in einen Winkel des Gefängnisses und war Zeuge der unwürdigen
Behandlung, welche die Königin ihrer unglücklichen Schwester widerfahren
ließ. Nachdem sie sie auf die grausamste Weise verhöhnt hatte, deutete sie ihr
an, sich auf den Tod vorzubereiten, und befahl ihren Sklavinnen, sie mit ihren
schönen Haaren an einen der Pfeiler des Gefängnisses zu binden.

„Haltet ein, erbarmungslose Henkersknechte, und
fürchtet die Rache des Himmels!“, rief Asem aus, unvermögend länger den
glühenden Zorn zurückzuhalten, der ihn ergriffen hatte.

Die Königin, erschrocken über die drohende Stimme,
welche sich hatte hören lassen, blickte furchtsam um sich her, und floh, von
ihren Sklavinnen gefolgt, schleunig von hinnen. Indessen die Prinzessin, welche
die Stimme ihres Gatten erkannt hatte, ihre beiden Hände auf ihre Brust legte
und ihre schönen Augen zum Himmel emporhub, um ihm für unverhoffte Hilfe zu
danken. Sobald die Königin das Gefängnis verlassen hatte, nahm Asem die
unsichtbar machende Kappe ab, und flog in die Arme seiner Gattin.

„Grausame,“ sprach er zu ihr, „so
belohntest Du so viel Zärtlichkeit, so viel Liebe?“