Project Description

542. Nacht

„Ich beschwöre Dich, mein Sohn, verzichte auf Dein
Vorhaben, und wäge nicht Dein Leben an eine Unternehmung, welche von keinem
glücklichen Erfolg gekrönt werden kann. Die Reise, welche Du vorhast, ist mit
zahllosen Gefahren verbunden. Sie geht durch dürre, mit wilden Tieren
bevölkerte Wüsten. Das unbebaute, ausgetrocknete Land bringt keine Früchte
hervor, und vergeblich würdest Du, vor Durst verschmachtend, Dich zu erfrischen
suchen, keine wohltätige Quelle würde sich Deinen trostlosen Blickend
arbeiten. Gesetzt, auch, es gelänge Dir, alle diese Gefahren zu übersteigen,
doch würdest Du noch weit von dem Ziel Deiner Wünsche entfernt sein, weil
Deine ganze übrige Lebenszeit nicht hinreichen würde, um ans Ziel Deiner Reise
zu gelangen, welche hundertundfünfzig Jahre erfordert. Lass also ab, mein Sohn,
in Dein Verderben zu rennen und kehre nach Hause zurück.“

Aber vergeblich bemühte sich Abd al Kuddus, Asems
Entschluss wankend zu machen. Dieser mochte nichts hören, und nachdem er sich
hinlänglich ausgeruht hatte, wollte er am dritten Tage wieder abreisen.

Als der Greis versichert war, dass nichts ihn von seinem
Vorhaben abbringen konnte, zündete er ein Feuer an, verbrannte Räucherwerk
darin, und nachdem er einige geheimnisvolle Worte ausgesprochen hatte, erschien
plötzlich ein Geist von mürrischem Ansehen.

„Warum hast Du mich gerufen?“, fragte er den
Greis: „Soll ich diesen Hügel, der Deinen Palast trägt, aufheben und ihn
über das Gebirge Kaf1)
hinweg schleudern?“

„Nein, Gott sei Dank,“ antwortete Abd al Kuddus,
„ich bedarf Deiner Dienste zu einer anderen Arbeit. Ich verlange, dass Du
diesen jungen Mann zu meinem Bruder Abd al Süllyb bringst.“

Obgleich der Weg dahin sehr weit war, doch war der Geist
sogleich bereitwillig, ergriff Asem mit seiner rechten Hand, setzte ihn auf
seine Schulter, schwang sich mit ihm in die Lüfte, und um Sonnenuntergang
senkte er sich mit ihm vor Abd al Süllybs Wohnung nieder.

Sobald sie eingetreten waren, grüßte der Riese ihn
ehrfurchtsvoll, machte ihm das Verlangen seines Bruders Abd al Kuddus kund, und
Asem nahte sich und überreichte ihm den Brief der Prinzessinnen, seiner
Nichten. Seine Verwunderung war ebenso groß, wie die seines Bruders, als er
Asems Geschichte vernahm und sein ausschweifendes Vorhaben, bis zu den Inseln
Waak al Waak zu reisen. Es fehlte wenig, dass er nicht in Zorn gegen ihn geriet,
als er seine Hartnäckigkeit sah, und wie er wenig auf seine Warnungen zu achten
schien. Indessen besänftigten Asems Verzweiflung und der Strom von Tränen, die
er vergoss, den Zorn Abd al Süllybs, der, von Mitleid gerührt, im Grunde
seines Herzens beschloss, sich Asems anzunehmen, und ihn so viel als möglich
vor den Gefahren zu beschützen, denen er entgegen ging. Er rief also zehn
Geister, die auf der Stelle erschienen; und nachdem er sie höflich eingeladen
hatte, sich zu setzen, erzählte er ihnen Asems ganze Geschichte, und fragte sie
dann, was sie davon dächten.

„Das ist eine wunderbare Geschichte,“ riefen sie
aus, „und sehr kühn ist das Unternehmen dieses jungen Mannes. Nichts desto
weniger wollen wir tun, was ihr verlangt, Herr, und in einem Augenblick Euren
Schützling von Gebirge zu Gebirge, von Wüsten zu Wüsten tragen, bis an die
Grenzen unsers Gebietes. Dort müssen wir ihn verlassen, denn es ist uns nicht
erlaubt, weiter zu gehen, und wir wagen es nicht, den Fuß in das Reich der
Geister zu setzen, welche mächtiger sind als wir, und deren Zorn wir
fürchten.“

„Ich nehme Euer Erbieten mit Dank an,“ rief Asem
aus, „und wenn es Euch gefällig ist, so wollen wir ohne längeren Verzug
abreisen, denn meine Zeit ist kostbar.“

Asem nahm also Abschied von Abd al Süllyb, und die zehn
Geister ergriffen ihn, setzten ihn auf ihre Schwingen, und nach Verlauf eines
Tages und einer Nacht erreichten sie ein Land, Namens Kafoor. Hier war das Ziel
ihrer Reise, und da sie Asem nicht weiter nützlich sein konnten, so wünschten
sie ihm glückliche Reise, flogen zurück, und entschwanden seinem Gesicht.


1)
Das Gebirge Kaf umgrenzt, nach der Vorstellung der Muselmänner, den bewohnbaren
Teil der Erde.