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528. Nacht

Am folgenden Morgen erschien der neunte Wesir vor dem
König und sprach zu ihm: „Herr, die Wahrhaftigkeit muss vor allem den
Königen eigen sein, und die Jahrbücher der Geschichte lehren uns, dass alle
Fürsten es sich zur Pflicht gemacht haben, durch diese Tugend sich
auszuzeichnen; denn wenn ein König sein Wort bricht, hört all sein Zutrauen
bei den Untertanen auf, die sich nicht mehr auf ihn verlassen können: Seine
Drohungen werden ebenso unwirksam als seine Versprechungen, und seine Regierung
ist durch dieses Misstrauen gelähmt.

Ihr habt Eurem Volk die Bestrafung eines Räubersohnes
verheißen, dessen Verurteilung längst ausgesprochen ist, und der durch seine
Märchen der Bestrafung seiner Verbrechen spottet. Diese Nachsicht bringt bei
Euren Untertanen von allen Ständen dienachteiligste Wirkung hervor; sie
sprechen: „Wir können fortan versichert sein, ungestraft zu bleiben,
welches Verbrechen wir auch begehen mögen; wir dürfen nur Geschichtchen
einlernen; und da unser guter König Erzählungen liebt, so brauchen wir ihm nur
einen neuen Schwank zu erzählen, um der Bestrafung zu entgehen.“ Demnach,
so viel Vergnügen es Euer Majestät gewähren mag, den Bacht-jar anzuhören,
ist es wichtig, Herr, dem ein Ziel zu setzen und den schädlichen Eindruck zu
verlöschen, welchen dieser wiederholte Aufschub auf die Gemüter Eurer Völker
gemacht hat.“

Der König ließ den Bacht-jar kommen und wollte schon dem
Scharfrichter Befehl zur Hinrichtung erteilen, als der Angeklagte nochmals um
eine Frist von zwei Tagen bat. „Herr,“ sprach er, „binnen dieser
so kurzen Zeit wird Gott das Licht aus der tiefen Dunkelheit hervorbrechen
lassen, welche es jetzt verfinstert. Denn die Verfolgungen, deren Schlachtopfer
ich bin, sind durch meine Feinde erregt, die auf das Glück, dessen ich mich bei
Euer Majestät erfreute, neidisch sind und mir nach dem Leben trachten. Der
Neid, gleich dem Feuer, vernichtet alles, was er berührt. Ebenso ging der
unglückliche Abutemam durch die gegen ihn erhobenen Verleumdungen
zugrunde.“

Asad-bacht wollte die Geschichte Abutemams wissen, und
Bacht-jar begann folgendermaßen:

Geschichte
Abutemams

„Herr, es lebte einst ein Mann, dem seine
Wissenschaft und Tugend die Hochachtung und Liebe seiner Mitbürger erworben
hatte. Er besaß unermessliche Reichtümer; weil aber der Statthalter in der
Stadt, wo er wohnte, als ein gewalttätiger und geiziger Mann denjenigen, die im
Wohlstand zu sein schienen, den größten Teil ihrer Mittel benahm, um sie dem
König zu geben, so war Abutemam genötigt, um seinen Reichtum zu verbergen,
sich mit schlechten und abgetragenen Kleidern zu bedecken und von den gröbsten
Nahrungsmitteln zu leben. Diese Lebensart verdross ihn dermaßen, dass er, müde
der steten Angst, in welcher er schwebte, eines Tages all seien kostbarste Habe
verbarg und heimlich die Stadt verließ, worin er bisher wohnte.

Er reiste schon einige Zeit umher, als er in ein
herrliches Land kam, dessen lachende Gefilde wohl angebaute Ländereien, reizende
Gärten und kristallhelle Gewässer darboten. Bald erreichte er auch die
Hauptstadt dieses Reichs: Und diese Stadt war mit prächtigen Gebäuden geziert,
wohlhabend, volkreich und von einem gerechten König beherrscht, welcher die
Fremden beschützte und sie mit größtem Wohlwollen aufnahm. Abutemam nahm also
keinen Anstand, in dieser Stadt seinen Wohnsitz aufzuschlagen.

In dieser Absicht kaufte er sich ein großes und
wohl gebautes Haus. Er säumte nicht, sich mit den vornehmsten Einwohnern in
Verbindung zu setzen, indem er sie häufig zu sich einlud. Er bewirtete ebenso
mit edelmütiger Gastfreiheit die Fremden und die Unglücklichen, welche er
speisen und kleiden ließ. Er verwandte überdem einen Teil seines Vermögens
zur Erbauung öffentlicher Werke: Er ließ Brücken über verschiedene Ströme
bauen, Karawansereien und Springbrunnen and en großen Straßen für die
Reisenden errichten.