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511. Nacht

„Rede ohne Scheu,“ sprach der König, „Du
hast nichts zu fürchten, was Du mir auch zu verkünden haben magst.“

„Herr,“ sagte nun Kardar, „Ihr kennt den
weisen Spruch: Wenn Du die Schlange tötest, so töte auch alle ihre Jungen. Was
ich Euch zu erzählen haben, wird euch die Richtigkeit desselben bewähren.

Eines Tages, als ich mich in einem der abgelegensten Teile
Eures Palastes befand, hörte ich zwei Personen leise miteinander sprechen, und
vermittelst eines Vorhanges, der mich verbarg, konnte ich nahe genug
herankommen, um die Tochter Kamkars zu erkennen, welche sich mit einem Ihrer
Sklaven unterhielt: „Du warst schon groß,“ sprach sie zu ihm,
„als ich noch sehr jung war, aber ich liebte Dich doch schon von meiner
zartesten Kindheit an. Ach! Wie viel Tränen habe ich während unserer grausamen
Trennung vergießen müssen. Des Nachts sah ich Dich im Traum. Des Tages dachte
ich nur an Dich: Endlich hat der Sultan Deinen Eintritt in den Harem bewilligt.
Aber warum erwiderst Du meine Zärtlichkeit mit solcher Kälte? Muss ich, wie
Dich mehr als meine Augen leibt, dich stets in dieser Gleichgültigkeit und
Zurückhaltung gegen mich finden? Höre, ich habe einen Anschlag ersonnen,
welchen Du mir musst ausführen helfen. Der Sultan hat meinen Vater getötet,
und diese Freveltat darf nicht ungestraft bleiben. Willst Du mir nur in meinen
Plänen beistehen, so soll Gift mich für seine Grausamkeit rächen, und sein
Tod wird uns gestatten, aus dieser Stadt zu entfliehen, und einen andern Ort
aufzusuchen, wo wir eines ungestörten Glückes genießen können.“

Ich war nicht im Stande,“ fuhr Kardar fort,
„länger diese Gräuel anzuhören, und zog mich schweigend zurück, um mich
den traurigen Betrachtungen zu überlassen, welche dieses Abenteuer in mir
erregte. Seit dieser Zeit habe ich mit lebhafter Ungeduld die Rückkehr Euer
Majestät erwartet, um Euch diesen entsetzlichen Anschlag zu entdecken.“

Diese Anklage seines Wesirs erregte dem Fürsten ebenso
viel Erstaunen als Abscheu. Er entließ sogleich seine ganze Umgebung. Als der
Lustigmacher, wie gewöhnlich, vor ihm erschien, um seine Späße zu machen,
ließ er ihn sogleich ergreifen, und ohne ihm zeit zu Erklärungen zu lassen,
hieb er ihn eigenhändig mitten durch.

Hierauf ließ er die Sultanin vor sich kommen, und sprach
zu ihr: „Ihr also, meine Frau, habt die Verwegenheit gehabt, einen Anschlag
gegen mein Leben zu machen, und habt diesen elenden Lustigmacher dem
mächtigsten Fürsten der Erde vorgezogen?“

Die Tochter Kamkars durchschaute die Treulosigkeit
Kardars, und wollte sich verantworten. Aber der König ließ ihr nicht Zeit
dazu, sondern fuhr also fort:

„Wohlan denn, weil Du diesen nichtswürdigen
Spaßmacher so sehr liebst, so sollen Deine Wünsche erfüllt und Du mit ihm
wieder vereinigt werden.“

Bei diesen Worten aber warf sich der listige Kardar dem
König zu Füßen, und rief aus: „Oh Herr, könntet Ihr ein Weib töten?
Besudelt nicht Euren Palast mit dieser unseligen Bestrafung, welche stets Unheil
ankündigt. Begnügt Euch damit, sie mit gebundenen Händen und Füßen auf ein
Kamel zu setzen, und sie so in der Wüste vor Hunger und Durst verschmachten zu
lassen.“

Der König befolgte den Rat seines Ministers, und auf der
Stelle wurde ein Kamel herbeigeführt, auf dessen Rücken man die unglückliche
Sultanin festband, und es so auf den Weg nach der Wüste brachte.