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506. Nacht

Auf diesen beleidigenden Verdacht konnte der König aus
Arabien sich nicht länger zurückhalten. „Ihr täuscht euch,“
antwortete er rasch, „ich bin kein Räuber, und weil ich es euch denn
bekennen muss, so wisst, das Königreich Arabien gehorcht meinen Geboten und
wenige Worte werden hinreichen, um Euch von der Wahrheit meiner Behauptung zu
überzeugen.

Hierauf erzählte er, wie er sich eingeschifft hätte, um
einen von seinem Hof entflohenen Sklaven zu verfolgen, und berichtete die
Umstände seines Schiffbruchs und seiner Ankunft in dem Königreich Sangebar.

Nach dieser Erzählung warf Abrahah, der nun seinen alten
Herren erkannte, sich plötzlich zu seinen Füßen, und bekräftigte so die
Wahrheit seiner Aussage. Der König von Sangebar unterließ nicht, seinem
Gefangenen tausend Entschuldigungen zu machen, und ihm sein großes Bedauern zu
bezeigen, dass er ihm eine solche Behandlung hatte widerfahren lassen. Er
bemühte sich fortan, durch seine Aufmerksamkeiten ihm die Unannehmlichkeiten
des Zufalls, welchen er ihn hatte büßen lassen, zu vergüten. Er ließ ihn ins
Bad führen, und bot ihm prächtige Kleider, treffliche Rosse und ein
zahlreiches Sklavengefolge dar.

Nachdem der König von Arabien so einige Tage unter
Vergnügungen und Festen in der Hauptstadt von Sangebar zugebracht hatte, kehrte
er mit einem glänzenden Gefolge nach seinen Staaten zurück.

Unterdessen versäumte man auch nicht, in Sangebar die
Urheber der Mordtat auszuforschen, und bestrafte sie streng.

„Ihr seht, Herr,“ fügte Bacht-jar hinzu,
„wenn der König von Arabien gegen Abrahah nicht Gnade bewiesen, dieser
Gelegenheit gefunden hätte, sich einst zu rächen, und wenn der König von
Sangebar den König von Arabien als Mörder des Kaufmanns hätte hinrichten
lassen, würde er Ursache gehabt haben, seine Ungerechtigkeit zu bereuen,
nachdem die wahren Schuldigen entdeckt worden.

Euer Majestät geruhe also die Vollziehung meiner
Verurteilung nicht zu beschleunigen, sondern mir noch einige Tage Aufschub zu
gewähren, um meine Unschuld darzutun. Die Gnade ist die sicherste Grundlage des
Thrones der Könige.“

Asad-bacht genügte diese Erzählung Bacht-jars, und er
befahl, ihn bis morgen ins Gefängnis zurückzuführen.

Am folgenden Tag trat der sechste Wesir vor den König
hin, verbeugte sich tief, und sprach folgendermaßen:

„Herr, es ist Pflicht der Könige, ihre Feinde zu
vertilgen, denn es ist eine unveränderliche Vorsichtsregel, dass auch der
schwächste nicht zu verachten ist. Man muss sich also von denen, die unsern
Schaden wollen, befreien, sobald man sie in seiner Gewalt hat.“

Der König befahl hierauf Bacht-jar vorzuführen, und
sprach zu ihm: „Wohlan, ich wartete bisher vergeblich, dass Deine Unschuld
sich offenbaren würde: Aber der Tag ist endlich gekommen, wo Dein Schicksal
entschieden werden soll.“

„Herr,“ antwortete Bacht-jar, „ich hatte
schon den Entschluss gefasst, mich schweigend zu unterwerfen, aber wenn ich
bedenke, wie Eure Feinde die Ungerechtigkeit benutzen werden, welche Ihr begehen
wollt, so kann ich nicht länger schweigen. übrigens seht Ihr, kann ich nicht
entfliehen, welchen Aufschub auch Euer Majestät mir zu gewähren geruht. Mein
Tod ist gewiss, wenn ich nicht so glücklich bin, meine Unschuld zu beweisen.
Der Eindruck, welchen die Majestät Eurer Gegenwart auf mich macht, verhindert
mich, die Umstände geltend zu machen, welche zu meinen Gunsten sprechen: Aber
ich sage euch, derjenige, der Alles weiß, wird einst die Falschheit der gegen
mich erhobenen Anklagen ans Licht bringen, und wenn ich sterbe, so könnte Euer
Majestät auch wohl noch die Ungerechtigkeit bereuen, wie der König Dabdyn,
welcher im Vertrauen auf die Anklagen Kardar’s den Kamkar umbringen ließ.“

Der König bat den Bacht-jar, diese Geschichte zu
erzählen.

Geschichte des Königs Dabdyn und seiner
beiden Wesire

„Herr,“ sprach Bacht-jar, „die alten
Jahrbücher der Vorzeit erzählen von einem König Dabdyn, der zwei Wesire,
namens Kamkar und Kardar, hatte1).

Der erste dieser beiden Minister besaß eine Tochter von
unvergleichlicher Schönheit. Nun hatte er eines Tages, da er genötigt war, den
König auf die Jagd zu begleiten, alle Sorgen der Reichsverwaltung seinem
Genossen, Kardar überlassen. Dieser hatte die Tochter Kamkars in einem Garten
gesehen, und war sterblich in sie verliebt, so dass es um seine Freiheit
geschehen war. Ihr reizendes Bild, welches sich Tag und Nacht vor seine Seele
stellte, ließ ihm keinen Augenblick Ruhe, und sein verstörter Geist sann nur
auf Mittel, den Gegenstand seiner Begierden zu erlangen.


1)
Kamkar bedeutet im pers. sehr begierig, im indischen Liebebegierig. Kardar
heißt Wirkender, Schaffender.