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503. Nacht

Die Vorstellungen seines Wesirs reizten Asad-bachts
Empfindlichkeit. „Man hole den Angeklagten her!“, sprach er, und als
ihn vor sich sah, fuhr er fort:

„Wähne nicht mehr, mich mit Deinen Märchen
hinzuhalten, und mir Hoffnung zu machen, dass Deine Unschuld noch einst an den
Tag kommen werde: Heute noch muss ich durch Deinen Tod allen denjenigen ein
warnendes Beispiel geben, welche versucht sein könnten, Deinen Freveltaten
nachzuahmen.“

„Herr,“ antwortete Bacht-jar, „wenn Euer
Majestät mir nur noch einige Worte vergönnen will, so wird der Himmel Euch
durch ewige Glückseligkeit für dies Gnade belohnen. Wie, Herr, Ihr, dessen
Gegenwart überall Freude und Glück verbreitet, ihr solltet allein durch mich
ein Gegenstand des Unwillens und ärgernisses sein? Durch mich, der ich
unschuldig bin, ich schwöre es Euch bei dem Namen Gottes, der alles weiß, und
dem nichts verborgen ist.“

Der König wurde durch diese Worte erschüttert, und
Bacht-jar fuhr also fort:

„Ich beschwöre Euer Majestät, mir noch einen
Aufschub von einigen Tagen zu gewähren, und ich verspreche euch, klar meine
Unschuld darzutun. Gewährt mir diese Gnade, und Euer Herz wird sich bald
darüber freuen, so wie jener König von Arabien sich freute, der seine Krone
und sein Glück der Festigkeit verdankte, mit welcher er seinen Zorn gegen einen
Sklaven, der ihn beleidigt hatte, zu mäßigen wusste.“

„Wer ist dieser König?“, fragte Asad-bacht.
Worauf Bacht-jar also begann:

Geschichte des Prinzen von Sangebar

„Es herrschte einst in Arabien ein König, welchen
seine Bedrückung, seine Härte und Ungerechtigkeit allen seinen Untertanen
verhasst machte. Er hatte unter seinem Sklaven einen Jüngling, der von der
Küste von Sangebar entführt worden: Dieser war der Sohn des Königs dieses
Landes. Weil er aber Gründe hatte, seine hohe Geburt zu verbergen, so wusste
niemand am Hof des Königs von Arabien, dass Abrahah1)
ein Prinz war.

Abrahah hatte sich die Gunst seines Herrn zu erwerben
gewusst. Er begleitete ihn überall hin, und ihm war die Aufsicht über die
Waffen des Königs anvertraut. Eines Tages, als sie zusammen auf der Jagd waren,
und ein Hirsch hitzig verfolgt wurde, schoss der König mehrere Pfeile ab, ohne
ihn zu erreichen. Abrahah, der hinterdrein folgte, schoss auch einen ab, aber er
hatte das Ungeschick, das Ohr des Königs zu treffen, von welchem der Pfeil ein
Stück mit sich wegriss, so dass das Blut stromweise herabfloss.

Sogleich befahl der König von Arabien, nach seiner
heftigen Gemütsart, seinem Gefolge, den unglücklichen Sklaven zu ergreifen und
ihm den Kopf abzuhauen. „Herr,“ sprach dieser zu ihm, „Euer
Majestät weiß wohl, dass mein Pfeil nicht auf euch gerichtet war, und dass
mein Ungeschick allein den Zufall veranlasste, dessen Opfer ich sein soll.
Geruht, dieses Versehen zu entschuldigen: Eine gute Handlung findet immer ihren
Lohn, und wenn ihr vergebt, so wird euch wieder vergeben.“

Der König von Arabien hatte Mitleid mit seinem jungen
Sklaven, er unterdrückte also seinen Zorn, und widerrief den gegebenen Befehl.
Abrahah voller Freuden, dankte seinem Herren für die Gnade, und kehrte mit ihm
nach der Stadt zurück.

Unterdessen hatte der König von Sangebar, dem man seinen
Sohn mit Gewalt entführt hatte, voll Unruhe über sein Verschwinden, lange
vergeblich nach allen Seiten Boten ausgeschickt, ihn zu suchen. Endlich vernahm
er, dass derselbe gefangen worden und Sklave am Hof des Königs von Arabien
wäre. Jedoch hielt er es nicht für rätlich, ihn als seinen Sohn
zurückzufordern, indem er mit Grund fürchtete, sein Herr möchte alsdann ein
zu hohes Lösegeld für ihn verlangen. Er wähle also einen gewandten und
erfahrenen Mann und trug ihm auf, diese Angelegenheit mit aller erforderlichen
Vorsicht und Verschwiegenheit zu betreiben. Dieser Mann begab sich, mit seinen
Verhaltensregeln und mit allem Geld versehen, dessen er zur Sicherung des
Erfolgs seiner Unternehmung bedurfte, nach Arabien.

Bei seiner Ankunft an dem Hof des Königs, gelangte er
leicht dazu, den jungen Prinzen von Sangebar zu sehen. Er erzählte ihm mit
Wärme von seinem Geburtsland und von der Zärtlichkeit seines Vaters. Abrahahs
Augen vergossen bei dieser rührenden Schilderung Tränen wie ein
Frühlingsregen. Da stand der Abgesandte nicht länger an, ihm den Zweck seiner
Sendung zu entdecken, und erklärte ihm, dass er von seinem Vater abgeschickt
wäre, um sein Entkommen zu erleichtern.

Abrahah ergriff diesen Vorschlag mit Freuden. Sie
verabredeten einen Ort, wo sie sich treffen wollten, und am Abend verließen
beide, als Kaufleute verkleidet, die Stadt, und in kurzer Zeit hatten sie die
Hauptstadt des Königreichs Sangebar erreicht.

Sobald der König von der Annäherung seines Sohnes
benachrichtigt war, ließ er ihm Truppen entgegen ziehen, ihm den prächtigsten
Empfang bereiten, und alles atmete Freude und vergnügen beim Einzug des Prinzen
in die Stadt.

Aber ganz anders war es am Hof des Königs von Arabien.
Als er entdeckte, dass sein Lieblingssklave plötzlich verschwunden, so war es
um seine Ruhe geschehen, und er beschäftigte sich nur mit dem Mittel, ihn
wieder zu finden. Zu diesem Zweck ließ er ein Schiff wohl ausrüsten und
zahlreich bemannen, und wenige Tage nach der Abfahrt des jungen Prinzen,
schiffte er sich zu seiner Verfolgung ein.


1)
Abrah ist Abraham.