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502. Nacht

„Ich bin nicht der Bruder Eures vorigen Königs, aber
wie jener war ich ein Opfer seiner Tyrannei. Als ich, um einen meiner Gefährten
zu trösten, zu ihm sagte, dass die Geduld einen Menschen aus der Tiefe eines
Brunnens auf einen Thron zu erheben vermag, hörte dies der böse Fürst, und
ließ mich zur Strafe meiner Kühnheit, in einen Brunnen werden, der mit dem
unterirdischen Gewölbe in Verbindung stand, worin Ihr mich gefunden habt.“

„Nunmehr werdet Ihr leicht die verschiedenen
Beweggründe meiner Handlungen begreifen:

Der vertriebene König, der in meinen Staaten Zuflucht
suchte, war vormals mein Herr. Aus ungerechtem Eigensinn hatte er mich meiner
Güter beraubt, mich aus seinem Reich verjagt und gezwungen, in ein fremdes Land
zu fliehen. Ich musste also seine Grausamkeit bestrafen, als sich die
Gelegenheit dazu darbot.

Die Räuber, welche ich ins Gefängnis werfen ließ,
hatten mir meine Kinder entführt, welche ich unter ihnen wieder fand, und diese
sind es, die ich begnadigte. Ich konnte jenen also ein so schweres Verbrechen
nicht verziehen, und noch weniger meine Söhne bestrafen. Anlangend die
Reichtümer, welche ich sie gezwungen habe herauszugeben, so hatten sie
dieselben geraubt, und ich hatte volles Recht, sie dazu zu zwingen.

Ihr wart endlich erstaunt, dass ich einem Mann, der sich
über die Widerspenstigkeit seiner Frau beklagte, den Kopf abhauen ließ: Aber
Ihr müsst wissen, dass diese Frau die meinige ist, und dass er sie mir bei
dieser Stadt in meiner Abwesenheit mit Gewalt entführt hat.

Ich glaube also, dass alle meine Handlungen auf
Gerechtigkeit und Billigkeit gegründet sind.“

Auf diese Rede Abu-Szabers bezeugte die ganze Versammlung
durch Freudengeschrei ihre Zufriedenheit und jedermann beeiferte sich, wegen des
ungerechten Murrens den weisen König um Verzeihung zu bitten, welcher hierauf
lange glücklich lebte, hoch geehrt und geliebt von seiner wieder gefundenen
Familie und von seinen durch ihn beglückten Untertanen.

„Ihr seht, Herr,“ fuhr Bacht-jar fort, „wie
nützlich die Geduld, und wie gefährlich die übereilung ist. Bedenkt, dass der
Befehl, welchen ihr jetzt gebt, für immer unwiderruflich ist, und dass es
vergebens wäre, wenn ihr später Eures Irrtums und des begangenen Unrechts inne
würdet.“

Diese Vorstellungen bewogen Asad-bacht, dass er die
Hinrichtung Bacht-jars bis morgen verschob.

Am folgenden Tag trat der fünfte Wesir vor den König hin
und sprach:

„Herr, der Aufschub, welchen Euer Majestät bei der
Bestrafung Bacht-jars zulässt, kann für das Königreich die unseligsten Folgen
haben. Aufgemuntert durch das Beispiel seiner Straflosigkeit, hört man schon
die Räuber untereinander sprechen: „Wir können jetzt ungestraft alles
tun, nachdem ein Mann, der es gewagt hat, in das geheiligte Frauenzimmer des
Königs zu dringen, für ein so schweres Verbrechen nicht bestraft worden: Umso
weniger werden die Verbrechen, welche wir begehen mögen, bestraft werden. Jeden
Tag erzählt der Angeklagte ihm eine Geschichte, wodurch es ihm gelingt, den
Augenblick seiner Bestrafung immer weiter hinaus zu schieben. Nun gut, wir
wollen ihm auch dergleichen erzählen.“