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50. Nacht

Als die Nacht beinahe vorüber war, rief Dinarsade der
Sultanin zu:

„Schwester, wenn du nicht schläfst, so bitte ich
dich zu erzählen, was der Prinz tat.“

„Du sollst es hören,“ antwortete Scheherasade:
„der zweite Kalender fuhr in seiner Geschichte also fort: „Glaubt nicht,
gnädige rau, dass ich mich der schönen Prinzessin von der Ebenholz-Insel
nahte, um der Scherge des grausamen Geistes zu sein. Ich tat es bloß, um ihr,
so viel es mir möglich war, durch Gebärden zu verstehen zu geben, dass, so wie
sie die Standhaftigkeit hatte, ihr Leben der Liebe zu mir aufzuopfern, ich nicht
zaudern würde, auch das meine aus Liebe zu ihr hinzugeben.

Die Prinzessin verstand meine Absicht, und ungeachtet
ihrer Schmerzen und ihrer Betrübnis bezeigte sie es mir durch einen dankenden
Blick, und gab mir zu verstehen, dass sie willig stürbe, und sich freute zu
sehen, dass auch ich für sie sterben wollte.

Ein Dichter drückt sich hierüber also aus:

„Mein Blick gibt zu verstehen, was meine Zunge sagen
will; er offenbart die Liebe, die ich sorgfältig verberge.

Nun, da Tränen fließen, tut’s Not zu schweigen; jetzt
müssen Blicke sprechen.

Sie macht ein Zeichen, und ich vernehme, was ihr Blick
ausdrückt, so wie sie auch meinen Blick versteht.

Unsere Augenlieder stehen in Verkehr mit einander; und
schweigend spricht die Liebe.“

Und folgende Verse stellen ganz unsere Lage dar:

„Wie oft schon war mein Geliebter genötigt, mit
seinen Augenliedern zu sprechen, und der Geliebten sein inneres zu offenbaren.
Auch ich zeige ihm durch Blicke an, dass ich alles weiß, was vorgeht.
Was kleidet mein Geschlecht wohl besser, als ein bedeutungsvoller Blick? Und wie
verständig ist der, dessen Auge begreift!
So dass der eine mit den Augenliedern schreibt, und der andere mit seinen
Augenliedern liest.“

Ich trat nun zurück, warf den Säbel auf den Boden, und
sagte zu dem Geiste: „Ich würde auf ewig bei allen Menschen bescholten Sein,
wenn ich die Niederträchtigkeit hätte, eine Frau zu morden, welche ich nicht
nur nicht kenne, sondern die auch schon, wie ich sehe, im Begriff ist, den Geist
aufzugeben. Tue mit mir, was dir beliebt, da ich in deiner Gewalt bin; aber ich
kann deinem grausamen Befehle nicht gehorchen.“

„Ich sehe wohl,“ sagte nun der Geist, „dass
ihr, einer wie der andere, mir trotzet, und meine Eifersucht verhöhnt: aber aus
der Art, wie ich euch behandeln werde, sollt ihr beide erkennen, wozu ich im
Stande bin.“

Mit diesen Worten ergriff der Geist wieder den Säbel, und
hieb der Prinzessin die eine Hand ab, so dass sie kaum noch so viel Zeit hatte,
mir mit der andern ein ewiges Lebewohl zuzuwinken; denn das Blut, das sie schon
verloren hatte, und das sie jetzo wieder verlor, ließ sie nur noch einen
Augenblick diese letzte Grausamkeit überleben, bei deren Anblick ich ihn
Ohnmacht sank.

Als ich wieder zu mir selber gekommen war, beklagte ich
mich gegen den Geist, dass er mich so lange in der Erwartung des Todes
schmachten ließ. „Haue zu,“ sagte ich zu ihm, „ich bin bereit,
den Todesstreich zu empfangen; ich erwarte ihn von dir, als die größte Gnade,
die du mir antun kannst.“

Aber anstatt sie mir zu gewähren, sagte er zu mir:
„Du siehst hier, auf welche Weise die Geister die Frauen, die sie im
Verdacht der Untreue haben, behandeln. sie hatte dich hier aufgenommen; und wenn
ich versichert wäre, dass sie mir einen noch größeren Schimpf angetan hätte,
so würde ich dich in diesem Augenblicke umbringen; aber so begnüge ich mich,
dich in einen Hund, oder Esel, oder Löwen, oder Vogel zu verwandeln. Wähle
eine von diesen Verwandlungen; ich will dir die Wahl frei stellen.“

Diese Worte gaben mir einige Hoffnung, ihn zu erweichen:
„O Geist,“ sagte ich zu ihm, „mäßige deinen Zorn; und weil du
mir nicht das Leben rauben willst, so lass es mir auf eine großmütige Weise.
Ich werde mich immerdar deiner Gnade erinnern, wenn du mir eben so verzeihest,
wie der beste Mensch von der Welt einem seiner Nachbarn auch verzieh, der einen tödlichen
Hass gegen ihn trug.“

Der Geist fragte mich, was denn zwischen den beiden
Nachbarn vorgegangen wäre, und äußerte, dass er wohl die Geduld haben wollte,
diese Geschichte zu hören. –

Ich glaube, gnädige Frau, dass es euch nicht unangenehm
sein wird, wenn ich euch diese Geschichte auch erzähle.

Geschichte
des Neiders und des Beneideten

„In einer ganz ansehnlichen Stadt wohnten zwei
Männer Tür an Tür. In dem einen regte sich gegen den andern ein heftiger
Neid, dass der, welcher der Gegenstand dieses Neides war, seinen Wohnort zu
verändern und sich zu entfernen beschloss, überzeugt, dass der, welcher der
Gegenstand dieses Neides war, seinen Wohnort zu verändern und sich zu entfernen
beschloss, überzeugt, dass die Erbitterung seines Nachbars nur durch die
Nachbarschaft erregt worden wäre; denn es war ihm nicht entgangen, dass,
obgleich er jenem gute Dienste geleistet hatte, er ihn darum doch nicht minder hasste.
Er verkaufte deshalb sein haus und seine übrige geringe Habe, begab sich in die
nicht ferne Hauptstadt des Landes und kaufte sich ein kleines Landgut, welches
ungefähr eine halbe Meile von der Stadt entfernt war. Er hatte dort ein recht
bequemes Haus, einen schönen Garten, und einen großen Hof, in welchem sich ein
tiefer Wasserbehälter befand, dessen man sich nicht mehr bediente.

Als nun der Ehrenmann diesen Ankauf gemacht hatte, wählte
er die Tracht eines Derwisches1),
um ein zurück gezogeneres Leben führen zu können, und ließ in dem Hause
mehrere Zellen bauen, in welchen er in kurzer Zeit eine zahlreiche Gemeinde von
Derwischen zusammenbrachte. Seine Tugend machte ihn bald bekannt und führte ihm
eine sehr große Menge von Leuten, sowohl aus dem Volke, als von den
Angesehensten der Stadt zu. Kurz, Jedermann liebte ihn auf ausgezeichnete Weise.
Es kamen auch welche aus weiter Ferne, um sich seinen Gebeten zu empfehlen und
alle, die sich zu ihm begaben, erzählten von den Gnaden, welche sie durch seine
Vermittlung vom Himmel erhalten zu haben glaubten.

Da sich der große Ruf des Mannes bis in die Stadt
verbreitet hatte, aus welcher er hergekommen war, so empfand der Neider darüber
einen so lebhaften Verdruss, dass er sein Haus und seine Geschäfte verließ,
mit dem Entschlusse, jenen ins Verderben zu stürzen. Zu diesem Zwecke begab er
sich in das neue Kloster der Derwische, deren Oberhaupt, sein vormaliger
Nachbar, ihn mit allen erdenklichen Freundschaftsbezeugungen aufnahm. Der Neider
sagte, er wäre ausdrücklich gekommen, um ihn eine wichtige Angelegenheit,
jedoch nur unter vier Augen mitzuteilen. „Damit,“ fügte er hinzu,
„niemand uns behorchen könne, wollen wir, wenn’s euch gefällig ist, in
eurem Hofe auf- und abgehen; und da die Nacht herannaht, so befehlt euren
Derwischen, sich in ihre Zellen zu begeben.“ Das Oberhaupt der Derwische
erfüllte diesen Wunsch.

Als sich nun der Neider mit unserm Ehrenmann allein sah,
begann er ihm zu erzählen, was ihm eben einfiel, wobei sie beide im Hofe
umhergingen, und als sie sich am Rande des Wasserbehälters befanden, stieß er
ihn hinein, ohne dass irgend jemand Zeuge dieser nichtswürdigen Handlung war.
Nachdem er dies getan, machte er sich schnell davon, erreichte die Türe des
Klosters, durch welche er sich ungesehen entfernte, und gelangte in seine Heimat,
sehr zufrieden mit seiner Reise und überzeugt, dass der Gegenstand seines
Neides nicht mehr auf der Welt wäre; aber er betrog sich sehr.“

Scheherasade konnte nicht weiter erzählen; denn der Tag brach an. Der Sultan
war über die Bosheit des Neiders aufgebracht. „Ich wünsche sehr,“
sagte er zu sich selbst, „dass dem guten Derwisch nichts Böses
widerfährt, und ich hoffe, morgen zu erfahren, dass ihn der Himmel bei dieser
Gelegenheit nicht verlassen hat.“


1)
Derwis oder Derwisch. Dieser Name, welcher arm bedeutet, entspricht bei den Mohammedanern
dem eines Mönches bei den Christen. Die Derwische legen die Gelübde der Armut,
der Keuschheit und des Gehorsams ab. Mewelewa, ihr Stifter, hat ihnen jedoch
erlaubt, in die Welt zurückzukehren, und sich sogar, wenn ihre Schwäche es
verlangt, zu verheiraten. Sie tragen grobe Hemden von Rasch und haben nur einen
Mantel aus groben Tuch, in welchen sie sich hüllen. Sie gehen barfuss und mit
entblößter Brust, ihr Gürtel ist ein lederner Riemen mit Schnallen aus
Elfenbein, Porphyr usw. Außer den im Alkoran vorgeschriebenen Fasten,
beobachten sie noch alle Donnerstage welche. Es ist ihnen dann nicht erlaubt,
vor Sonnenuntergang zu essen.