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48. Nacht

Dinarsade erwachte kurz vor Tage, und rief der Sultanin
zu: „Schwester, wenn du nicht schläfst, so bitte ich dich, uns zu
erzählen, was in dem unterirdischen Palast vorging, nachdem der Prinz den
Talisman zertrümmert hatte.“

„Du sollst es sogleich hören,“ sagte
Scheherasade. Und indem sie den Faden wieder aufnahm, erzählte sie in der
Person des zweiten Kalenders also weiter: Kaum war der Talisman zerbrochen, so
erbebte der Palast, als wollte er zusammenstürzen, mit einem furchtbaren, dem
Donner ähnlichen Getöse, begleitet von Blitzen, abwechselnd mit tiefer Finsternis.

Dieses entsetzliche Krach zerstreute augenblicklich die
Dünste des Weines, und ließ mich, freilich zu spät, meine Unbesonnenheit
erkennen.

„Prinzessin,“ rief ich aus, „was bedeutet
dies?“ Sie antwortete, ganz erschrocken, und ohne an ihr eigenes Unglück
zu denken: „Wehe! es ist um euch geschehen, wenn ihr nicht entflieht.“

Ich folgte ihrem Rath und mein Schreck war so groß, dass
ich meine Axt und Schuhe vergaß.

Kaum hatte ich die Treppe erreicht, welche ich herab
gestiegen war, als der Zauberpalast sich auftat, und der Geist hereinfuhr. Er
fragte zornig die Prinzessin: – „Was ist euch zugestoßen? und warum ruft
ihr mich?“ – „Eine übelkeit,“ antwortete die Prinzessin, „nötigte
mich, die Weinflasche zu holen, welche ihr hier sehet; ich trank zwei oder
dreimal davon, unglücklicherweise tat ich einen Fehltritt, und fiel auf den
Talisman, welcher zerbrach. Weiter ist es nichts.“

Auf diese Antwort sagte der Geist wütend zu ihr:
„Ihr seid eine unverschämte Lügnerin. Die Axt und die Schuhe dort, wie
kommen die hierher?“ – „Ich sehe sie jetzo zum ersten Mal,“ erwiderte
die Prinzessin. „In dem Ungestüm, womit ihr gekommen seid, habt ihr sie
vielleicht selber im vorbei Streichen irgendwo aufgerafft und mit hierher
gebracht, ohne es bemerkt zu haben.“

Der Geist antwortete nur durch Schimpfreden und durch
Schläge, wovon ich den Lärm hörte. Ich konnte es nicht länger aushalten, das
Weinen und das Wehgeschrei der so grausam misshandelten Prinzessin zu hören.
Ich hatte schon das Kleid, welches sie mich anlegen lassen, ausgezogen und
meines wieder genommen, das ich am vorigen Tage, als ich aus dem Bade kam, auf
die Treppe gelegt hatte. Also stieg ich vollends hinauf, um so mehr von Schmerz
und Mitleid durchdrungen, als ich die Ursache eines so großen Unglücks und der
undankbarste und strafbarste aller Menschen war, indem ich die schönste
Prinzessin der Erde der Grausamkeit eines unversöhnlichen Geistes hingab.

„Es ist wahr,“ sagte ich bei mir selber, „dass
sie seit fünfundzwanzig Jahren eine Gefangene ist: aber, die Freiheit
ausgenommen, blieb ihr nicht zu wünschen übrig, um glücklich zu sein. Meine
Unbesonnenheit zerstört ihr Glück, und überliefert sie der Grausamkeit eines
erbarmungslosen Geistes.“

Ich ließ die Falltüre nieder, bedeckte sie wieder mit
Erde, und kehrte nach der Stadt zurück, mit einer Fracht Holz, welche ich
zurecht hatte, ohne zu wissen, was ich tat, so sehr war ich erschüttert und
betrübt. Zugleich sprach ich folgende Verse aus:

„O du Schicksal, das sich meinem glücke so
widersetzt, als wäre ich dein Feind! täglich bringst du mir noch ein
größeres Unglück.

Lassest du mir auch einmal einen Tag heiter vorübergehen,
so muss ich immer wieder ein Unheil erwarten, das du mir für den nächsten Tag
bereitest.“

Der Schneider, mein Wirth, bezeugte eine große Freude,
mich wieder zu sehen. „Eure Abwesenheit,“ sagte er zu mir, „hat mir
viel Unruhe gemacht, wegen des Geheimnisses eurer Geburt, das ihr mir vertraut
habt. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, und fürchtete, dass euch jemand
erkannt hätte. Gott sei gedankt für eure Heimkehr!“

Ich dankte ihm für seine Teilnahme und Freundschaft: aber
ich sagte ihm nichts von dem, was mir begegnet war, noch von der Ursache, dass
ich ohne Axt und Schuhe heim kam.

Ich begab mich in meine Kammer, wo ich mir tausendmal
meine große Unbesonnenheit vorwarf. „Nichts,“ sagte ich zu mir
selber, „wäre meinem Glücke mit der Prinzessin zu vergleichen gewesen,
wenn ich mich hätte bezähmen können, und den Talisman nicht zerbrochen
hätte.“

Während ich mich diesen trübseligen Gedanken hingab,
trat der Schneider herein, und sagte zu mir: „Ein Greis, den ich nicht
kenne, kömmt eben mit eurer Axt und euren Schuhen, welche er auf seinem Wege
gefunden hat, wie er sagt. Er hat von euren Genossen, die mit euch in den Wald
gehen, erfahren, dass ihr hier wohnet. Komet und redet mit ihm; er will sie
euren eigenen Händen übergeben.“

Bei dieser Rede verwandelte sich meine Farbe, und ich
zitterte am ganzen Leibe. Der Schneider fragte mich um die Ursache davon, als plötzlich
der Boden meiner Kammer sich auftat: der Greis, der nicht die Geduld gehabt
hatte, zu warten, erschien, und stand mit der Axt und den Schuhen vor uns. Es
war der Geist und Entführer der Prinzessin von der Ebenholz-Insel, welcher
diese Gestalt angenommen, nachdem er sie mit der äußersten Grausamkeit
behandelt hatte. „Ich bin ein Geist,“ reif er aus, „ein Sohn der
Tochter des Iblis, des Fürsten der Geister. Ist das hier nicht deine Axt?“
fügte er hinzu, indem er sich zu mir wandte. „Sind das hier nicht deine
Schuhe?“

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, dass es Tag war,
und hörte auf zu erzählen.

Der Sultan fand die Geschichte des zweiten Kalenders zu
schön, als dass er nicht mehr davon hätte wissen wollen. deshalb stand er mit
der Absicht auf, in der folgenden Nacht die Fortsetzung derselben zu hören.