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47. Nacht

Dinarsade weckte auch diese Nacht sehr früh; und die
Sultanin, um die Wissbegierde ihrer Schwester zu befriedigen, erzählte weiter,
was sich in dem unterirdischen Palast zwischen der Frau und dem Prinzen zutrug.

„Der zweite Kalender,“ hub sie an, „fuhr
also in der Erzählung seiner Geschichte fort:

„Um der schönen Frau die Mühe zu ersparen, bis zu
mir zu kommen, beeilte ich mich, ihr zu nahen; und indem ich ihr eine tiefe
Verbeugung machte, sprach sie zu mir: „Wer seid ihr? Seid ihr ein Mensch
oder ein Geist?“ – „Ich bin ein Mensch, Herrin,“ antwortete ich
ihr, indem ich mich wieder aufrichtete, „und ich habe keinen Verkehr mit
den Geistern.“ – „Durch welches Abenteuer,“ fuhr sie mit einem
Seufzer fort, „befindet ihr euch hier? Es sind fünf und zwanzig Jahre, dass
ich hier wohne, und während dieser ganzen Zeit habe ich keinen andern Menschen
hier gesehen, als euch.“

Ihre große Schönheit, die mich schon hingerissen hatte,
ihre Sanftmut, und die Freundlichkeit, mit welcher sie mich empfing, gaben mir
die Dreistigkeit, ihr zu antworten: „Herrin, bevor ich die Ehre habe, eure
Neugierde zu befriedigen, erlaubet mir, euch zu sagen, dass ich mich unendlich
glücklich preise über die unversehene Begegnung, welche mir Gelegenheit
darbietet, mich in meiner Betrübnis zu trösten, und vielleicht auch euch
glücklicher zu machen, als ihr seid.“

Ich erzählte ihr aufrichtig, durch welches seltsame
Schicksal sie in meiner Person einen Königssohn in solchem Zustande vor sich
sähe, und wie der Zufall es gewollt, dass ich den Eingang ihres prächtigen,
aber allem Anscheine nach dennoch langweiligen Gefängnisses, gefunden hätte.

„Ach, Prinz,“ sagte sie, abermals seufzend,
„ihr habt wohl Ursache zu glauben, dass dieses so reiche und prachtvolle Gefängnis,
nichts desto weniger ein sehr langweiliger Aufenthalt ist. Auch der reizendste
Ort kann nicht gefallen, wenn man wider seinen Willen daselbst ist. Ihr habt gewiss
schon von dem großen Epitimarus gehört, dem Könige der Ebenholz-Insel, welche
so genannt ist, weil sie dieses köstliche Holz im überfluss hervorbringt. Ich
bin die Tochter dieses Königs.

Der König, mein Vater, hatte mich einem Prinzen zur
Gemahlin bestimmt, der mein Vetter war; aber in der ersten Hochzeitnacht, mitten
unter den Lustbarkeiten des Hofes und der Hauptstadt der Ebenholz-Insel, bevor
ich meinem Manne zugeführt war, entführte mich ein Geist. Ich sank in diesem
Augenblick in Ohnmacht und verlor alles Bewusstsein; und als ich wieder zu mir
selber kam, befand ich mich in diesem Palast. Ich bin lange darüber
untröstlich gewesen; aber die Zeit und die Notwendigkeit haben mich daran
gewöhnt, den Anblick des Geistes zu ertragen. Es sind, wie ich euch schon
gesagt habe, fünf und zwanzig Jahre, dass ich an diesem Orte bin, wo ich sagen
kann, dass ich alles nach Wunsch habe, was zum Leben gehört, und was eine
Prinzessin befriedigen könnte, welche nur den Staat und den Putz liebte.

Von zehn zu zehn Tagen kömmt der Geist, eine Nacht bei
mir zu liegen; nicht öfter schläft er hier, und seine Entschuldigung darüber
ist, dass er mit einer andern Frau verheiratet sei, die eifersüchtig sein
würde, wenn seine Untreue gegen sie zu ihrer Kenntnis käme. Indessen, wenn ich
seiner bedarf, sei es Tag oder Nacht, so darf ich nur einen Talisman berühren,
welcher am Eingange meines Gemaches ist, und alsbald erscheint der Geist. Es
sind heute vier Tage, dass er hier gewesen ist; also erwarte ich ihn erst in
sechst Tagen; und deshalb könnt ihr fünf Tage bei mir bleiben, und mir
Gesellschaft leisten, wenn es euch gefällt. Ich werde mich bemühen, euch eurem
Stande und euren Verdiensten gemäß zu bewirten.“

Ich würde mich zu glücklich geschätzt haben, eine so
große Gunst zu erlangen, wenn ich darum gebeten hätte, als dass ich ein so
verbindliches Anerbieten hätte ablehnen sollen. Die Prinzessin ließ mich in
ein Bad gehen, welches das sauberste, bequemste, und prächtigste war, das man
sich vorstellen kann; und als ich wieder heraus kam, fand ich, anstatt meines
Kleides, ein anderes sehr reiches, welches ich weniger dieses Reichtums wegen
anlegte, als mich der Gesellschaft der Prinzessin würdiger darzustellen.

Wir setzten uns auf ein Sofa, das mit einem köstlichen
Teppich bedeckt, und mit Kissen vom schönsten Indischen Brokat versehen war;
und bald darnach besetzte sie einen Tisch mit den erlesensten Speisen, indem sie
folgende Verse aussprach:

„Hätte ich deine Ankunft vermutet, so würde ich
dir, gleich einem Teppich, ausgebreitet haben das Edelste meiner Seele und das
Schwarze meiner Augen.

Auf die Erde hätte ich meine Wangen gebreitet, damit dein
Weg über meine Augenlieder gegangen wäre.“

Wir aßen hierauf zusammen, und brachten den übrigen Teil
des Tages sehr angenehm zu, und zur Nacht nahm sie mich in ihr Bett auf.

Am folgenden Tage, da sie mir auf alle Weise Vergnügen zu
machen suchte, bewirtete sie mich zu Mittage mit einer Flasche alten Weins, des
trefflichsten, den man trinken kann; und aus Gefälligkeit trank sie auch einige
Züge mit mir davon. Als mir nun der Kopf von diesem angenehmen Getränke
erhitzt war, sprach ich zu ihr: „Schöne Prinzessin, es ist schon zu lange,
dass ihr hier lebendig begraben seid; folget mir, kommt und erfreut euch wieder
des wahrhaften Tageslichtes, dessen ihr seit so vielen Jahren beraubt seid.
Verlasset das falsche Licht, das euch hier täuscht.“

„Prinz,“ antwortete sie mir lächelnd,
„lasset diese Rede. Ich achte den schönsten Tag auf der Welt für nichts,
wofern ihr hier von zehn Tagen mir neun gewährt, und dem Geiste den zehnten
überlasset.“ – „Prinzessin,“ fuhr ich fort, „ich sehe wohl,
dass die Furcht vor dem Geiste euch dieses Sprach eingibt. Ich meinerseits
fürchte ihn so wenig, dass ich seinen Talisman samt dem darauf geschriebenen
Zauberschnörkel in Stücken schlagen will. Mag er dann kommen, ich erwarte ihn.
Wie gewaltig und furchtbar er auch sein mag, ich will ihn das Gewicht meines
Armes fühlen lassen. Ich schwöre hier, alles, was es von Geistern auf der Welt
gibt, zu vertilgen, und ihn zuerst.“

Die Prinzessin, welche die Folgen davon voraussah,
beschwur mich, den Talisman nicht anzurühren. „Das wäre das Mittel,“
sagte sie zu mir, „uns beide zu Grunde zu richten. Ich kenne die Geister
besser, als ihr.“

Aber die Dünste des Weines ließen mir die Vernunftgründe
der Prinzessin nicht eingehen; ich trat mit dem Fuß in den Talisman und
zerschmetterte ihn in mehrere Stücke.

In diesen Worten bemerkte Scheherasade, dass es Tag war,
und schwieg; und der Sultan stand auf. Da er aber nicht zweifelte, dass der
zerbrochne Talisman irgend ein merkwürdiges Ereignis zur Folge haben würde, so
beschloss er, auch das übrige der Geschichte zu hören.