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462. Nacht

Nachdem sie dem Derwisch gedankt und Abschied von ihm
genommen hatte, stieg die Prinzessin Parisade wieder zu Pferd. Sie warf die
Kugel vor sich hin, und folgte ihrem Weg, auf welchem sie dahin rollte: Die
Kugel lief so fort bis an den Fuß des Berges, wo sie still stand.

Die Prinzessin stieg nun ab. Sie verstopfte sich die Ohren
mit Baumwolle, und nachdem sie den Weg recht ins Auge gefasst, welchen sie, um
auf den Gipfel des Berges zu gelangen, zu nehmen hatte, begann sie, mit festem
Schritt und unerschrockenem Mut, den Berg zu ersteigen. Sie hörte wohl die
Stimmen, aber wurde bald inne, dass die Baumwolle ihr von großem Nutzen war. Je
weiter sie vorschritt, je stärker und je mehr wurden die Stimmen, jedoch nicht
in dem Maße, dass sie vermocht hätten, sie in Verwirrung zu setzen. Sie hörte
allerlei Beleidigungen und beißende Spottreden in Beziehung auf ihr Geschlecht,
verachtete sie aber und lachte nur darüber.

„Ich erzürne mich weder über eure Beleidigungen,
noch über eure Verspottungen,“ sprach sie bei sich selber, „macht es
immer noch ärger, ich lache nur darüber, und ihr sollt mich nicht verhindern,
meinen Weg fortzusetzen.“

Sie stieg endlich so hoch hinauf, dass sie schon den
Käfig und den Vogel erblickte, welcher, im Bunde mit den unsichtbaren Stimmen,
sich ebenfalls bemühte, sie furchtsam zu machen, indem er ihr, ungeachtet
seiner Kleinheit, mit donnernder Stimme zurief:

„Wahnwitzige, zurück! Nahe dich nicht!“

Die Prinzessin aber, durch diesen Anblick ermutigt,
verdoppelte ihre Schritte. Als sie sich dem Ziel ihrer Laufbahn so nahe sah,
erreichte sie auch glücklich den Gipfel des Berges, wo es eben war. Sie lief
gerade auf den Käfig los, ergriff ihn mit der Hand, und sprach zu dem Vogel:

„Vogel, du bist in meiner Gewalt, trotz deinem
Sträuben, und du sollst mir nicht entschlüpfen.“

Indem nun Parisade die Baumwolle wieder aus ihren Ohren
zog, sprach der Vogel zu ihr:

„Tapferes Fräulein, nehmt mir es nicht übel, dass
ich mich mit denen vereinigt habe, welche sich für die Behauptung meiner
Freiheit anstrengten. Obwohl in einen Käfig gesperrt, war ich jedoch mit meinem
Los zufrieden. Aber da ich einmal zu Sklaverei bestimmt bin, so will ich lieber
euch zu Herrin haben, die ihr mich so mutig und standhaft errungen habt, als
jeden anderen auf der Welt. Von nun an schwöre ich euch unverletzliche Treue
und gänzliche Unterwerfung unter alle eure Befehle. Ich weiß, wer ihr seid,
und ich verkündige euch, dass ihr selber euch nicht kennt, wer ihr seid. Aber
es wird ein Tag kommen, wo ich euch einen Dienst zu leisten hoffe, den ihr mir
danken werdet. Um euch sogleich Beweise meiner Aufrichtigkeit zu geben, so
eröffnet mir, was ihr wünscht, und ich bin bereit euch zu gehorchen.“

Die Freude der Prinzessin war umso unaussprechlicher, als
die Eroberung, welche sie soeben gemacht hatte, mit dem Tod zweier zärtlich
geliebten Brüder erkauft, und für sie selber mit so viel Anstrengung und
Gefahr verbunden war, deren Größe sie nun, nachdem sie diese überstanden,
besser erkannte, als bevor sie sich, trotz den Vorstellungen des Derwisches,
darin begeben hatte. Sie antwortete jetzt auf die Rede des Vogels: