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43. Nacht

Als die Sultanin sah, dass ihre Schwester
fast vor Ungeduld starb, das ende der ersten Geschichte des ersten Kalenders zu
vernehmen, sagte sie:

„Nun wohl, höre denn, wie der erste
Kalender Sobeïde seine Geschichte zu Ende erzählte.“

„Ich kann nicht ausdrücken, gnädige
Frau,“ fuhr er fort, „wie groß mein Erstaunen war; als ich den
König, meinen Oheim, auf solche Weise den Prinzen, seinen Sohn, im Tode misshandeln
sah. „Herr,“ sagte ich zu ihm, „wie groß auch der Schmerz ist,
welchen ein so unseliger Anblick mir verursachen mag, dennoch muss ich ihn
hemmen, um Euer Majestät zu fragen, welches Verbrechen der Prinz, mein Vetter,
begangen haben kann, das verdiente, dass ihr seinen Leichnam also
behandelt.“ –

„Lieber Neffe,“ antwortete mir der
König, „ich muss dir sagen, dass mein Sohn, der unwürdig ist, diesen
Namen zu führen, von frühster Jugend auf seine Schwester liebte, und diese ihn
eben so wieder liebte. Ich widersetzte mich nicht ihrer aufkeimenden Zuneigung,
weil ich das Unheil nicht voraussah, welches daraus entstehen konnte. Und wer
hätte es voraussehen können? Diese Zärtlichkeit wuchs mit den Jahren, und
stieg zu einer Höhe, dass ich endlich die Folgen davon fürchtete. Ich wandte
nun alle Gegenmittel an, die in meiner Macht standen. Ich begnügte mich nicht,
meinem Sohn unter vier Augen einen scharfen Verweis zu geben, indem ich ihm das
Frevelhafte der Leidenschaft vorstellte, der er sich hingab, und die ewige
Schmach, womit er seine Familie bedecken würde, wenn er in seinen verbrecherischen
Lüsten beharrte; ich machte meiner Tochter dieselben Vorstellungen, und ich
sperrte sie so eng ein, dass sie keine Verbindung mehr mit ihrem Bruder hatte.
Aber die Unglückliche hatte das Gift schon verschluckt und alle Hindernisse,
die meine Vorsicht ihrer Liebe entgegenstellen konnte, dienten nur dazu,
dieselbe noch mehr zu reizen.

Mein Sohn war überzeugt, dass seine
Schwester unverändert für ihn blieb, und er ließ unter dem Vorwande, sich ein
Grabmal zu bauen, diese unterirdische Wohnung anlegen, in der Hoffnung, eines
Tages Gelegenheit zu finden, den mitschuldigen Gegenstand seiner Glut hierher zu
entführen. Er hat die Zeit meiner Abwesenheit benutzt, den Gewahrsam seiner
Schwester zu sprengen: und dies ist ein Umstand, welchen die Ehre mir nicht
erlaubte kund werden zu lassen. Nach einer so verdammbaren Tat hat er sich dann
mit ihr an diesem Orte versperrt, welchen er, wie du siehst, mit Vorräten aller
Art versehen hat, um darin recht lange seiner grauenvollen Lüste zu genießen,
welche alle Welt mit entsetzen erfüllen müssen. Aber Gott hat diesen Gräuel
nicht dulden wollen, und hat sie beide nach Verdienst bestraft.“

Er zerfloss in Tränen, indem er diese Worte
aussprach, und ich vermischte meine Tränen mit den seinen.

Nach einer Weile warf er den Blick auf mich,
und indem er mich umarmte, fuhr er fort: „Aber, mein lieber Neffe, wenn ich
meinen unwürdigen Sohn verliere, so finde ich glücklicherweise in dir einen,
der seine Stelle besser ausfüllt.“ Die Betrachtungen, welche er hierauf
noch über das traurige Ende des Prinzen und der Prinzessin anstellte,
entlockten uns neue Tränen.

Wir stiegen dieselbe Treppe wieder hinauf und
verließen endlich diesen grauenvollen Ort. Wir ließen die eiserne Falltüre
nieder und bedeckten sie mit Erde und Schutt von dem abgebrochenen Grabe, um so
viel als möglich ein so furchtbares Beispiel des
göttlichen Strafgerichts zu verbergen.

Wir waren noch nicht lange zurück in den
Palast, ohne dass jemand unsere Abwesenheit bemerkt hatte, als wir ein
verworrenes Getöse von Trompeten, Pauken, Trommeln und andern
Kriegsinstrumenten hörten. Ein dicker Staub, der die Luft verfinsterte,
bedeutete uns alsbald, was es wäre, und verkündigte uns den Anzug eines
furchtbaren Kriegsheeres.

Es war derselbe Wesir, der meinen Vater
entthront und sich seiner Staaten bemächtigt hatte, und nun mit zahllosen Heerscharen
daher kam, um sich auch der Staaten des Königs, meines Oheims, zu bemächtigen.

Dieser Fürst, der damals nur seine
gewöhnliche Leibwache um sich hatte, konnte so vielen Feinden nicht
widerstehen. sie umringten die Stadt, und da ihnen die Tore ohne Widerstand
geöffnet wurden, so hatten sie wenig Mühe, sich derselben zu bemeistern. Nicht
mehr Mühe hatten sie, bis zum Palast des Königs, meines Oheims, vorzudringen,
welcher sich zwar zur Wehre setzte, aber getötet wurde, nachdem er sein Leben teuer
verkauft hatte. Ich meinerseits focht noch einige Zeit, aber als ich wohl
einsah, dass ich der übermacht weichen musste, war ich auf meinen Rückzug
bedacht. Ich hatte das Glück, mich auf Umwegen zu retten, und mich zu einem
Offizier des Königs zu flüchten, dessen Treue mir bekannt war.

Von Leiden gebeugt, vom Schicksal verfolgt,
nahm ich meine Zuflucht zu einer List, als dem einzigen Mittel, das mir übrig
blieb, mein Leben zu fristen. Ich ließ mir den Bart und die Augenbrauen scheren,
und nachdem ich mich als Kalender gekleidet hatte, ging ich aus der Stadt, ohne dass
jemand mich erkannte.

Hierauf war es mir leicht, mich aus dem
Reiche des Königs, meines Oheims, zu entfernen, indem ich auf abgelegenen Wegen
fortwanderte. Ich vermied, durch die Städte zu gehen, bis dass ich in das reich
des mächtigen Beherrschers der Gläubigen1),
des ruhmreichen und berühmten Kalifen Harun Arreschyd gelangte, wo meine Furcht
aufhörte. Da ging ich mit mir zu Rate, was ich tun sollte, und fasste den Entschluss,
hierher nach Bagdad zu gehen, und mich diesem großen Fürsten zu Füßen zu
werfen, dessen Edelmut überall gepriesen wird. „Ich werde ihn,“ sagte
ich bei mir selber, „durch die Erzählung einer so erstaunlichen
Geschichte, als die meine ist, rühren; er wird ohne Zweifel Mitleid mit einem
unglücklichen Prinzen haben, und nicht vergeblich werde ich seinen Schutz
anflehen.“

Endlich nach einer Reise von mehreren
Monaten, habe ich heute das Thor dieser Stadt erreicht; gegen Abend bin ich
herein gegangen, und indem ich ein wenig verweile, mich wieder zu sammeln und zu
überlegen, nach welcher Seite hin ich meine Schritte lenken solle, kömmt
dieser andere Kalender, den ihr bei mir sehet, auch als Reisender an. Er grüßt
mich, ich grüße ihn wieder. „Nach eurem Aussehen,“ sage ich zu ihm,
„seid ihr ein Fremder, wie ich.“ Er antwortet mir, dass ich mich nicht
irre. In dem Augenblicke, dass er mir diese Antwort gibt, kömmt der dritte
Kalender, den ihr hier sehet, dazu. Er grüßt uns, und gibt zu erkennen, dass
er ebenfalls ein Fremder und neuer Ankömmling zu Bagdad ist. Als Brüder
gesellen wir uns zu einander, und fassen den Entschluss, uns nicht zu trennen.

Unterdessen war es spät geworden, und wir wussten
nicht, wo wir eine Herberge finden sollten in einer Stadt, wo wir ganz
unbekannt, und nie zuvor gewesen waren. Aber unser gutes Glück führte uns an
eure Türe, und wir nahmen uns die Freiheit, anzuklopfen; ihr habt uns mit so
viel Freundlichkeit und Güte empfangen, dass wir nicht genug dafür danken
können.

Da habt ihr nun, gnädige Frau,“ fügte
er hinzu, „was ihr mir befahlt, euch zu erzählen: warum ich mein rechtes
Auge verloren habe, warum ich den Bart und die Augenbrauen geschoren trage, und
warum ich in diesem Augenblicke bei euch bin.“

„Es ist genug,“ sagte Sobeïde,
„wir sind zufrieden; gehet, wohin ihr wollt.“

Der Kalender entschuldigte sich, und bat die Herrin
um die Erlaubnis, da bleiben zu dürfen, um die Genugtuung zu haben, die
Geschichte seiner beiden Mitbrüder zu hören welche er, wie er sagte, nicht mit
Ehren verlassen könnte, so wie die Geschichte der drei übrigen Personen der Gesellschaft.

„Herr,“ sagte Scheherasade bei
dieser Stelle, „der anbrechende Tag erhindert mich, zu der Geschichte des
zweiten Kalenders überzugehen, aber wenn eure Majestät sie morgen hören will,
so wird sie euch nicht weniger unterhalten, als die des ersten Kalenders.“

Der Sultan willigte darein, und stand auf, um
in die Ratsversammlung zu gehen.


1)
Beherrscher der Gläubigen: über diesen Titel des Kalifen.
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