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416. Nacht

Der Sultan sprach auf diese Weise zu seinen Günstlingen,
ohne sie merken zu lassen, dass ihre äußerungen auf sein Gemüt Eindruck
gemacht hatten. Gleichwohl geriet er darüber in einige Unruhe und beschloss,
die Schritte des Prinzen Achmed beobachten zu lassen, doch ohne seinem
Großwesir das mindeste davon zu sagen. Er ließ die Zauberin kommen, welche
durch eine geheime Tür des Palastes eingelassen und bis in sein Gemach geführt
wurde, und sagte zu ihr:

„Du hast mir die Wahrheit gesagt, als du mich
versichertest, dass mein Sohn Achmed nicht tot sei, und ich danke dir dafür.
Allein du musst mir noch einen Gefallen tun. Seitdem ich ihn nämlich
wieder gefunden habe, und er wieder alle Monat einmal an meinen Hof kommt, habe
ich noch nicht von ihm herausbringen können, an welchem Ort er seine Wohnung
hat. Ich habe ihm keinen Zwang antun wollen, um ihm sein Geheimnis wider seinen
Willen abzulocken. Indessen ich halte dich für geschickt genug, um meiner
Neugier Befriedigung zu verschaffen, ohne dass er oder irgend jemand an meinem
Hof etwas davon erfährt. Du weißt, dass er jetzt eben hier ist, und da er von
hier immer wieder abzureisen pflegt, ohne von mir oder irgend einem an meinem
Hof Abschied zu nehmen, so verliere keine Zeit, begib dich noch heute auf seinen
Weg und beobachte ihn so gut, dass du erfährst, wo er jedes Mal hingeht, und
mir darüber Antwort bringen kannst.“

Die Zauberin entfernte sich aus dem Palast des Sultans,
und da sie erfahren hatte, an welchem Ort der Prinz Achmed seinen Pfeil gefunden
hatte, so begab sie sich augenblicklich dahin und versteckte sich bei den
Felsen, doch so, dass sie nicht bemerkt werden konnte.

Den folgenden Tag reiste der Prinz Achmed mit Anbruch des
Morgens ab, ohne dass er vom Sultan oder von einem andern Mann des Hofes
Abschied nahm, wie dies seine gewöhnliche Weise war. Die Zauberin sah ihn
kommen und begleitete ihn mit den Augen so weit, bis sie ihn und sein Gefolge
aus dem Gesicht verlor.

Da die Felsen wegen ihrer steilen Jähe eine Grenzmauer
bildeten, die für jeden Sterblichen, er mochte zu Fuß oder zu Pferd sein,
unübersteigbar war, so schloss die Zauberin, eines von beiden könne hier nur
der Fall sein, dass nämlich der Prinz sich hier entweder in irgend eine Höhle
zurückzöge, oder an irgend einen unterirdischen Ort, wo eben und Geister
wohnten. So wie sie nun vermuten konnte, dass der Prinz und seine Leute
verschwunden, und in die Höhle oder in das unterirdische Gemach eingegangen
sein müssten, kam sie aus ihrem Versteck hervor, und ging gerades Weges auf die
Schlucht los, wo sie dieselben hatte hineintreten gesehen. Sie ging in diese
hinein, schritt so weit vor, bis wo sich dieselbe in allerlei Krümmungen
endigte, sah sich nach allen Seiten um, und ging mehrere Male auf und ab. Allein
ungeachtet aller Sorgfalt bemerkte sie doch weder eine Höhlenöffnung noch die
eiserne Tür, welche früher den Nachforschungen des Prinzen Achmed nicht
entgangen war, und zwar darum, weil diese Tür nur für Männer, und zwar nur
für die, deren Gegenwart der Fee Pari Banu angenehm war, aber nicht für Frauen
sichtbar war.

Da die Zauberin sah, dass alle ihre Mühe fruchtlos sei,
so musste sie sich mit der Entdeckung, die sie soeben gemacht hatte, begnügen.
Sie ging also wieder zurück, um dem Sultan Antwort zu bringen, und nachdem sie
diesem über alle ihre getanen Schritte Bericht abgestattet hatte, fügte sie
hinzu:

„Herr, es wird mir, wie euer Majestät aus dem soeben
abgestatteten Bericht ersehen kann, nicht schwer werden, euch über das Betragen
des Prinzen Achmed den befriedigendsten Aufschluss zu geben, den ihr euch nur
wünschen könnt. Ich will euch gegenwärtig noch nicht sagen, was ich davon
denke, sondern ich will euch lieber eine so klare Kenntnis von der Sache
verschaffen, dass ihr nicht mehr zweifeln könnt. Um dies bewirken zu können,
erbitte ich mir von euch bloß Zeit und Geduld, nebst der Erlaubnis, dass ihr
mich machen lasst, ohne nach den Mitteln zu fragen, deren ich mich hierzu
bedienen muss.“

Der Sultan nahm die Maßregeln, welche die Zauberin in
Hinsicht seiner ergriff, ganz wohl auf, und sagte zu ihr:

„Ganz nach deinem Belieben! Geh und handle so, wie du
es für angemessen findest, ich werde die Erfüllung deiner Versprechungen ruhig
abwarten.“

Um sie aufzumuntern, schenkte er ihr zugleich einen sehr
kostbaren Diamant, indem er ihr sagte, dies gebe er ihr bloß vorläufig, bis er
sie einst vollständig belohnen würde, wenn sie ihm den wichtigen Dienst, worin
er sich ganz auf ihre Geschicklichkeit verlasse, geleistet haben würde.

Da der Prinz Achmed, seitdem er von der Fee Pari Banu die
Erlaubnis erhalten hatte, dem Sultan von Indien seine Aufwartung zu machen,
nicht unterlassen hatte, dies regelmäßig alle Monate einmal zu tun, so wartete
die Zauberin, die dies recht gut wusste, bis der laufende Monat zu Ende ging.
Ein oder zwei Tage vor dem Ende desselben begab sie sich an den Fuß der Felsen,
und zwar an die Stelle, wo der Prinz mit seinen Leuten ihr aus dem Gesicht
verschwunden war, und wartete da, um den Plan, den sie entworfen hatte,
auszuführen.

Schon am folgenden Tag ritt der Prinz Achmed wie
gewöhnlich aus der eisernen Tür heraus, und zwar mit dem Gefolge, das ihn
immer zu begleiten pflegte, und kam dicht an der Zauberin vorbei, die er nicht
für das erkannte, was sie war. Da er bemerkte, dass sie mit dem Kopf auf den
Felsen gelehnt da lag und wie eine schwer Leidende jammerte, so bewog ihn das
Mitleid, seitwärts abzulenken, um sich ihr zu nähern, und sie zu fragen, was
ihr denn fehle, und was er zu ihrer Linderung tun könne.